Wo und wann hatte ich Dieter eigentlich kennengelernt? Zum einen bei einem Regensburger politischen Verein, wo er sich als Vorstand zuweilen mit einer aus Berlin zugewanderten streitlustigen Lesbe herumschlagen musste. Auf der anderen Seite erzählte meine damalige Partnerin Dagmar öfters von einem Dozenten Kattenbusch. Sie studierte Englisch und Französisch; das Schattentheater der Traumfabrik – und wohl vor allem deren überlaufene Veranstaltungen – hatten es ihr jedoch mehr angetan. Aber das ist eine andere Geschichte ...

Eines Abends saßen wir zusammen mit einem gewissen Alfred in einer Studentenkneipe namens Oma Plüsch. Die war hoffnungslos von Juristen und WiWis okkupiert und von uns Geisteswissenschaftlern gemieden. Auch die Weichspülmusik war nicht besonders. Ich habe mich höchstens dreimal da hinein verirrt.

Zu meiner Verwunderung ging es an jenem besagten Abend die ganze Zeit ums Laufen. Alfred war etwas beleibter und sah wirklich nicht wie der ideale Läufer aus. Gegen Ende sagte Dieter zu mir: „Nächsten Mai ist ein Marathon in München. Läufst du mit?“

Ich spielte regelmäßig freitags in der Uni Fußball, oft zwei bis zweieinhalb Stunden. Ich sah mir die beiden an und sagte nach geraumer Bedenkzeit: „Ja“. Diese Entscheidung sollte mein – und eventuell auch Dieters – Leben ziemlich verändern.

Er fuhr mich noch nach Hause. Dies ging jedoch nur bis zu einem Fußgängersteg über einen Donauarm. Obwohl es spät am Abend war und ich nicht situationsgerecht gekleidet, nutzte ich die letzten 500 Meter gleich als Trainingsauftakt.

Kurz darauf flog Tschernobyl in die Luft. Ich hatte leichtsinnigerweise noch im Freien Fußball gespielt. Unsere Umgebung war durch den Regen direkt betroffen. Das bedeutete eine längere Trainingspause, denn die Meldungen der Bayerischen Staatsregierung waren widersprüchlich und man wollte schließlich kein größeres Risiko eingehen; Milchpulver, selbstgezogene Sprossen und Gemüsekonserven überwogen dann im sommerlichen Speiseplan.

* * *

Anfang des Herbsts nahm ich das Lauftraining wieder auf. Langsam steigerte ich die Distanzen. Den Winter über hätte man sich manchmal auch etwas anderes vorstellen können.

Günter Bock - Portrait


Günter Bock, Organisations- programmierer und IT-Berater/Dozent, geboren 1954 in Bayreuth. Aufgewachsen in Fichtelberg, Gymnasium in Wunsiedel. Lebt seit Studienbeginn in Regensburg: Studium Germanistik/Geschichte/Geographie, abgeschlossen mit 1. und 2. Staatsexamen.
Während der frustrierenden Bundeswehrzeit in Cham/Oberpfalz – heute bin ich gerichtlich anerkannter Kriegsdienstverweigerer – habe ich mit dem Schreiben begonnen. In der Hauptsache Prosatexte, die meist durch Alltagserfahrungen initiiert wurden; da ich auch Rockmusiker bin, schreibe ich ab und zu einen Songtext.
Bisherige Veröffentlichungen: „Von Menschen und Tieren, ein Märchen“, „Harmonie“, „Gleichnis vom Goldgräber“, „Der Gesell“, alle in: „Hoffnungsblumen“, Autoren-Werkstatt 39, Anthologie, Hrsg. Rita G. Fischer, Frankfurt/Main 1993 (heute leider vergriffen – Restexemplare beim Autor erhältlich). „Das Licht der Kerze (Beitrag zu Goethes Farbenlehre)“, in: „Träumen in des Himmels blaue Weite“, Autoren-Werkstatt 85, Anthologie, Hg. Rita G. Fischer, Frankfurt/Main 2002. „Die denkwürdigen Abenteuer des ehrwürdigen Herrn Josef K.“, Eigendruck im Selbstverlag, Regensburg 2005.
Mit diesem kleinen Essay möchte ich mich bei meinem Sports-, Geschäftspartner und Freund in allen Lebenslagen für viele schöne, aber auch schmerzliche Erlebnisse, die es ohne ihn so nicht gegeben hätte, herzlich bedanken.

Im Frühjahr fuhren Dieter, sein Freund Anton und ich nach München zu meinem ersten Halbmarathon. Es ging drei- oder viermal die gleiche Route um den Feringasee. Das Laufen gelang gut. Doch aufgrund des schönen Wetters hatten sich viele türkische Familien zum Grillen verabredet, und die fetttriefenden Rauchschwaden trieben immer wieder in Richtung der Laufstrecke. Für einen Vegetarier eine starke Zumutung.

Am Wochenende vor unserem Marathontermin schlug Dieters Härtetest voll zu. In drei Etappen rund um Regensburg legten wir an den zwei Tagen fast 45 Kilometer zurück. Am Sonntag war ich vollkommen fertig und musste mich die Woche über bei der Arbeit erholen.

Abb. 1: Marathon in München 1987

Marathon in München 1987

Dann kam der große Augenblick. Wir fuhren Samstag schon nach München und übernachteten bei Bekannten von Dieter. Für Abendläufer ist ein Beginn um 9 Uhr ein Gräuel.

Nach dem Start versuchten wir bewusst, langsam zu laufen, d. h. unseren Trainingsschnitt mit fünf Minuten pro Kilometer. Alles klappte sehr gut. Als wir jedoch nach Kilometer 30 in den Englischen Garten kamen, sagte Dieter plötzlich: „Ich bin jetzt platt. Lauf du zu.“

Ich war etwas konsterniert. Ohne meinen Trainer? Ich bemühte mich, gleichmäßig weiterzulaufen. Die nächsten zehn Kilometer waren die härtesten meines bisherigen Lebens. Ich kühlte mit ausgegebenen Schwämmen immer wieder Schläfen und Armgelenke, obwohl es nicht allzu heiß war. Als ich schließlich das Olympiastadion erblickte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich hatte sogar noch Kraft für eine beherzte Stadionrunde und lief knapp unter dreieinhalb Stunden durchs Ziel.

Abb. 2: Marathon in Berlin 1988

Marathon in Berlin 1988

Nach dem Duschen ging es mir ziemlich schlecht. Dieter hatte den toten Punkt im Englischen Garten schon vorweggenommen. Ich dachte mir: „Jetzt weißt du, wie es ist. Ein Marathon reicht!“ Doch ich sollte rückfällig werden. Und es war schon ein erhabenes Gefühl, Jahre später beim ersten gesamtdeutschen Marathon zusammen mit Dieter durch das Brandenburger Tor laufen zu können.

* * *

Es mag sein, dass die Idee mit dem Radfahren von mir kam. Genau weiß ich es nicht mehr. Mein ehemaliger Mittelhochdeutschdozent, Stefan Weidenkopf (wie ich ein Gerhard-Hahn- und somit Hugo-Kuhn-Schüler), war hierin Meister und brachte mich mit Radsport Menzl in Verbindung. In einem Hinterhof kauften die Rennfahrer ein, da gab es kein Rad von der Stange. In liebevoller Handarbeit wurden individuelle Rennmaschinen zusammengebaut und -geschraubt.

Stefan begleitete mich. Es gab tatsächlich ein reduziertes, schönes weiß-rotes Exemplar für gute alte 900 Deutsche Mark. Da auch der Rahmen auf meine Größe und Beinlänge passte, war ich nach kurzer Bedenkzeit stolzer Besitzer dieses grazilen Gefährts.

Auf unsere halbverrückte Alpenpässe-Tour mit Anton konnte ich mein Schmuckstück jedoch gar nicht mehr mitnehmen: An einem Freitagnachmittag wurde mein Rad von einem kleinen Auto, in dem zwei Frauen – vermutlich angeregt plaudernd – saßen (das stellte sich erst heraus, nachdem ich mich mühsam wieder aufgerappelt hatte), glattweg von hinten überrollt.

Abb. 3: Alpenpässetour 1988: Dieter und Anton beim Frühstück

Alpenpässetour Frühstück

Als es in der Pfingstwoche los ging, konnte ich mir von einem anderen Trainingspartner Bernhard, der aufgrund zahlreicher sportlicher Ankündigungen, aber auch Rückzüge den Beinamen der Zauderer trug, ein Rad ausleihen, da mein neues noch nicht fertig war. Immer im Wechsel fuhren zwei auf den Rädern, der dritte steuerte Dieters Bus. Bisweilen war es schwierig, Dieters Hund Ira zu bändigen, insbesondere, wenn sie mitkriegte, dass ihr Herrchen in der Nähe war. Über die Glockner-Hochalpenstraße bei Nieselregen und oben Schneefall, den Brenner und noch einige Pässe mehr landeten wir schließlich nach einer anstrengenden Apennin-Überquerung in der wunderbaren Stadt Lucca.

Eine Dombesichtigung war unvermeidlich; anschließend gingen wir in eine nahe Bar, um bei cornetti und cappuccini die weitere Route zu besprechen.

Dabei wurden wir Zeugen einer großartigen Begebenheit. Eine Gruppe betagter Wienerinnen betrat das Lokal. Sie hatten wohl noch alle ein größeres Österreich miterlebt. Zielstrebig steuerten sie auf die ausgestellten Hörnchen zu. Die Anführerin ergriff ohne Begrüßung sofort die Initiative: „Sieß oder sauer?“ fragte sie den barista.

Der blickte etwas gelangweilt hinter seinem Tresen hervor und sagte ohne mit der Wimper zu zucken: „Duecento lire“.

Die Dame war mit der Antwort unzufrieden. Zum zweiten Versuch setzte sie mit erhobener Stimme an: „Ich maan – sieß oder sauer?“

Die Szene wiederholte sich. Der barista verharrte in seiner Stellung und wiederholte im gleichen Tonfall: „Duecento lire“.

Abb. 4: Alpenpässetour 1989: Günter Bock mit Leihrennrad

Alpenpässetour mit Leihrennrad

Ich war irritiert. Wir hatten zwei gut Italienisch Sprechende dabei. Wir sollten doch den Damen behilflich sein! Ich blickte Dieter an, dann Anton. Beide waren kurz davor, loszuprusten und konnten sich kaum mehr gerade halten. Was sollte das? Die alten Damen … Doch langsam begriff ich: Wir waren soeben mitten drin in einem interkulturell besetzten Schauspiel.

Die Dame schien zu resignieren. „I glaab, der versteht uns ned“. Die nächste kam ihr eilends zu Hilfe. Zu groß war der Appetit auf ein cornetto con oder senza cioccolata. Mit erhobenem Zeigefinger auf ein Objekt der Begierde deutend, herrschte sie den barista an: „Sieß oder sauer?“

Dieser verlor mit der schwierigen Kundschaft allmählich die Geduld. Sich mit einer Hand hinter dem Ohr kratzend, die andere gestikulierend in der Höhe, antwortete er lauter als zuvor: „Duecento lire“.

Wir waren von der Einmaligkeit und Tragik der Situation überwältigt und mühten uns redlich, Haltung zu bewahren. Die Dame knurrte: „Er versteht uns net“. Sie ergriff die noch vor ihr stehende ehemalige Anführerin am Arm und mit einem „Trottl, bläda“ stürmte die Gruppe aus der Bar, um woanders erneut ihr Glück zu versuchen.

* * *

Irgendwie logisch, dass wir auch mit Triathlon anfingen, genauer gesagt: Kurztriathlon. Kurz deshalb, weil ich zwar ein ausdauernder, aber kein schneller Schwimmer bin, denn ich beherrsche trotz Schwimmkurs die Kraultechnik nicht und folglich stieg ich oft als fünft-, viert- oder gar drittletzter aus dem meist zu kaltem Wasser.

Teilnahmemöglichkeiten gab es genug, mit Kallmünz und Neufahrn kleine familiäre Veranstaltungen quasi vor der Haustür. Dieter wuchs immer mehr in die Rolle des technischen Direktors hinein. Öfters sagte er: „Ich hab uns übrigens angemeldet bei … Zum Beispiel einem Swiss Triathlon. In die Schweiz fahre ich gerne, dachte ich und hatte keine Vorstellung, was uns blühen sollte.

An einem Freitag erfolgte die Anreise; wir wohnten in Ilanz bei Dieters Freund Jean-Jacques – der gerade ein Rätoromanisch-Deutsches Wörterbuch verfasste – und seiner Frau, die ursprünglich aus Polen kam. Sie achtete sehr darauf, dass wir Leistungssportler auch immer reichlich und gut zu Essen bekamen.

Am Samstag fuhren wir mit dem Auto die Radstrecke ab. Mir zitterten beim Erkunden der zwei Pässe um Flims und Laax in einer atemberaubend schönen Gebirgslandschaft die Knie. Jetzt ahnten wir, auf was wir uns eingelassen hatten. Zudem hatten unsere Späher Hans und Werner, die gerade in der Gegend Urlaub machten, von sehr kaltem Wasser berichtet, da die Woche zuvor ein Schlechtwettergebiet durchgezogen war.

Abb. 5: Swisstriathlon 1987: Start im kalten Bergsee

Swisstriathlon 1987 Start

Mit bangem Erwarten begann der Sonntag. Das Wetter war gut, aber es war nicht übermäßig warm. Ein Witzbold hatte auf einer Schiefertafel die Wassertemperatur mit 18° Celsius angegeben – vielleicht hätten sie sonst nicht starten dürfen. Die gefühlte Temperatur lag ein bis zwei Grad darunter.

Nur mit Badehose und -kappe bekleidet, stürzten wir uns inmitten der Neoprenträger ins Wasser. Aufgrund meiner Brustschwimmtechnik war ich meistens über 25 Minuten in dem kühlen Element unterwegs, das meinen schlanken Körper auszehrte. Schlotternd stieg ich als einer der letzten aus dem Bergsee.

Die steile Auffahrt zur Straße war zu kurz, um warm zu werden. Zu meinem Unglück ging es in großem Tempo mehrere Kilometer bergab. Plötzlich überkamen mich Schüttelfröste; um Stürze zu vermeiden, musste ich mehrere Male das Tempo radikal reduzieren. Dieter war weit weg, andere Teilnehmer rauschten in schneller Fahrt an mir vorbei.

Endlich kam die Talebene des Vorderrheins, doch gegenüber ging es gleich wieder die kleine Straße den Pass hinauf. Ich konnte mich verpflegen und aufgrund der langsameren Bergfahrt wurde mir ganz langsam wieder warm.

Bergauf holte ich einige andere Bewerber ein. Nach der Passhöhe folgte die nächste Abfahrt bis zum Talboden, die konnte ich jetzt sogar genießen. Doch unten angekommen, war die Freude vorbei: es ging wieder quälend lang hinauf zum Startplatz. Alle um mich herum stöhnten nun in der Sonnenwärme, etliche gaben auf.

Im Umkleidebereich kamen Hans und Werner auf mich zu. „Der Dieter ist mehr als zehn Minuten voraus!“ riefen sie aufgeregt. „Den holst du heute nicht mehr ein.“

Abb. 6: Swisstriathlon 1987: Im Ziel

Swisstriathlon Ziel

War mir schon klar und auch egal. Ich lief los und versuchte, nach der Radfahrstrapaze allmählich Tritt zu fassen. Die Strecke führte anfangs viel durch Wald und es ging bald besser. Ich wollte nur mehr unbeschadet ins Ziel kommen. Doch kurz davor traute ich meinen Augen nicht: Da lief doch tatsächlich Dieter! An einer kleinen Steigung konnte ich ihn sogar noch überholen.

Bei meinem Zieleinlauf stürzte ich unsere Betreuer erneut in große Aufregung. Wo war Dieter? Ich verstand nicht warum und sank ermattet ins Gras. Erst allmählich wurde mir klar: Die beiden hatten nicht mit mir gerechnet und befürchteten, sie hätten die Zielankunft unseres technischen Direktors verschlafen.

Abb. 7: Nach dem Swisstriathlon 1987

Swisstriathlon danach

Kurz darauf kam Dieter, fluchend; aber die Welt war wieder in Ordnung, als wir die vorbereiteten Radler-Maßen hinunterstürzten. Einen Swiss-Triathlon haben wir nicht mehr gebucht.

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Die nichtchronologische Steigerung sollte ein Pentathlon werden. Was bitte? Der technische Direktor hatte uns angemeldet, und so fuhren wir mit Dieters umgebautem VW-Bus nach Zell am See. Das arme Fahrzeug war vollkommen überladen: Laufschuhe und -klamotten sowieso, Schwimmausrüstung auch. Wir stürzten uns aber ohne Neopren in die Fluten. Dazu kamen die beiden Rennräder und für dieses Ereignis zweimal Alpinski und das dazugehörige Equipment sowie zwei Langlaufausrüstungen.

Es war Schlechtwetter angesagt. Wir fuhren trotzdem mit unserer Equipage aufs Kitzsteinhorn, wo die Skibewerbe stattfanden. (Österreicher lassen das deutsche „Wett-“ hier weg – ein sympathischer Zug.) Zuerst also mein erster Riesenslalom mitten im Sommer! Durch die Wärme bildeten sich bei jedem Tor tiefe Wannen; an ein halbwegs normales Fahren war unter diesen Umständen nicht zu denken. Bezeichnenderweise war hier Dieter sogar etwas schneller als der Grundstufenskilehrer.

Dann kam der Langlauf. Mit meiner geliehenen Ausrüstung musste ich drei Runden drehen. Ich war etwas zu leicht angezogen. Vielleicht war das der Grund, dass ich hier Dieter wieder ein paar Sekunden abnehmen konnte. Aber in der Gesamtzeit war er noch vorne.

Wir fuhren mit der Zahnradbahn – in der Jahre später jenes traurige und tragische Unglück passieren sollte – und unseren Utensilien wieder hinunter und waren träge und ausgelaugt – vielleicht auch wegen der ungewohnten Höhe. Den Rest des Tags schleppten wir uns müde herum.

Am nächsten Morgen war das Wetter viel schlechter. Zudem wehte ein böiger Wind. Ein ungutes Gefühl kam in mir hoch. Bei der Anfahrt und angesichts des hohen Wellengangs im Zeller See versuchte ich sachte, Dieter für ein Nichtantreten zu gewinnen. Er war unschlüssig. Doch dann gab es einen kleinen Unfall: Beim Einparken mit dem ungewohnten Bus, bei dem sämtliche Scheiben beschlagen waren, touchierte er die Stoßstange des dahinter parkenden Autos. Das setzte sofort Adrenalin in ihm frei und mit rotem Kopf rief er: „Wir starten!“

Abb. 8: Pentathlon 1987: Zieleinlauf in Zell am See

Pentathlon Einlauf

Dem war nicht viel entgegenzusetzen. (Selbstverständlich befestigte Dieter an dem fremden Auto einen Zettel an der Windschutzscheibe.) Im kalten Wind trafen wir unsere Vorbereitungen, und ich ging schon ausgekühlt ins Wasser. Bis zur Wendeboje konnte ich einigermaßen zügig schwimmen, da der Wind von hinten kam. Doch dann wurde es viel beschwerlicher. Ich spürte, wie die Kälte immer mehr in mich hineinkroch; die kleinen Finger beider Hände wurden klamm. Auch die Ringfinger kamen hinzu.

Einige langsame Schwimmer ließen sich durch Bootsbesatzungen aus dem Wasser ziehen. Auch ich überlegte. Doch dann wäre der Bewerb vorbei gewesen. Also strebte ich mit letzter Energie dem rettenden Ufer zu und verschwand erst einmal minutenlang in einem Toilettenhäuschen.

Anschließend legte ich die Radkleidung an und fuhr los. Der Umkleidebereich war menschenleer. Ich hoffte, mich auf der flachen Radstrecke wieder warmzufahren. Doch nach zwei Kilometern kam das Ende.

Ich stellte verwundert fest, dass meine Beine immer träger und schwerer wurden. Und plötzlich überkam mich wieder dieser Schüttelfrost. Die Arme rissen so stark am Lenker, dass ich zu stürzen drohte. Ich blieb kurz stehen und versuchte, wieder loszufahren. Ich kam nicht weit.

Ein holländischer Kollege – er hatte sich aus dem Wasser ziehen lassen – hatte mich beobachtet. Er hieß mich ins Auto setzen und drehte die Heizung voll auf. Mit klappernden Zähnen saß ich im Wagen und konnte nicht einmal richtig sprechen. Mir war klar, dass nichts mehr ging. Ich bat ihn, mich zum Umkleidebereich zurückzufahren. Das war in all den Jahren meine einzige Aufgabe.

Ich zog alles an, was ich dabei hatte. Stopfte sämtliche Streckenverpflegung in mich hinein und trank meine Versorgungsflasche leer. Dann sprang ich lange herum, um wieder einigermaßen warm zu werden. Einigermaßen wiederhergestellt fuhr ich langsam mit dem Rad zum Zielbereich, um Dieter zu beglückwünschen, als er im Nieselregen den Zieleinlauf überquerte. „Nichts wie weg hier!“ oder so ähnlich lautete der Kommentar des neuen Pentathleten.

* * *

Weiter ging es mit dem Bodensee-Triathlon. Wo hatte Dieter das alles nur her? Seine damalige Partnerin Christine hatte immer mich im Verdacht, Dieter zu diesen Eskapaden anzustacheln.

Da es ein Ultra-Bewerb war, teilten wir uns – wie die überwiegende Mehrheit der anderen Starter auch – die Distanzen auf. Klar war, dass Dieter die fünf Kilometer quer durch den See schwimmen musste – einen anderen Verrückten hierfür hätten wir nicht gefunden. Klar war auch, dass ich über 30 Kilometer laufen sollte. Es musste also noch ein Radler her.

Bernhard der Zauderer winkte ab. Aber durch seine Vermittlung kamen wir an Ulrich Dotter, einen früheren Vereinsfahrer, der immer noch einen Schnitt von 37/38 Kilometern pro Stunde fahren konnte.

Wir trafen uns in Meersburg, sprachen die Taktik durch. Am nächsten Morgen ging es auf das Südufer des Sees, wo sich Dieter, der bewundernswert trainiert hatte und diesmal mit einem Neoprenanzug ausstaffiert war, mit vielen anderen unter unseren Anfeuerungsrufen in den See stürzte. Bald zog sich das Feld auseinander, das lotsende Schiff begann langsam kleiner zu werden.

Abb. 9: Im Trio beim Bodensee-Triathlon 1990

Bodensee Triathlon

Gemächlich fuhren Uli und ich auf die Nordseite hinüber. Der technische Direktor schwamm streng nach seiner Zeitvorgabe und hielt durch. Die meisten Radler waren schon auf der Strecke, als Uli startete. Doch mit seiner Kraft und Routine machte er viele Plätze bei der Rundfahrt um den Bodensee gut.

Dann kam die Reihe an mich. Mit einem mulmigen Gefühl lief ich los, denn ich hatte die letzten Wochen kaum trainieren können. Das hatte ich den beiden anderen bis zuletzt verschwiegen. Der Grund war folgender: Eines Abends war Pater Alfred Welker, den alle nur Don Alfredo nannten1, in Regensburg zu Gast. Es war heiß, und ich kam zum Vortrag zu spät. Alfred, mit ZZ-Top-Bart2, wusste viel und Interessantes aus Cali zu erzählen, und ich stand vielleicht anderthalb Stunden mit Jesuslatschen in einer Ecke des Raums. Am nächsten Morgen konnte ich mit der rechten Ferse nicht mehr auftreten und ein später hinzugezogener Orthopäde erklärte mir, dass ich einen Fersensporn hätte. Ich bekam Schuheinlagen mit einer weichen Einbuchtung unter der rechten Ferse.

Die nächsten zwei Wochen konnte ich nicht trainieren, erst eine Woche vor dem Ultra-Bewerb hatte ich wieder mit kurzem Lauftraining begonnen. Viel kam da nicht mehr zusammen.

Hinzu kam, dass es aufgrund der langen Distanzen schon ziemlich spät war und die Sonne vom Himmel brannte, als ich endlich an die Reihe kam. Die Strecke war zunächst flach. Ich achtete darauf, die lange Strapaze nicht zu schnell anzugehen.

Als ich erwartungsvoll nach einem Wendepunkt Ausschau hielt, tauchte in der Ferne ein imposanter Basaltkegel auf. Schaute interessant aus. Doch plötzlich kam mir in den Sinn: „Die werden doch nicht …?“

Genauso kam es. Ein bis anderthalb Kilometer quälten wir uns in der Hitze den steilen Berg hinauf. Viele Läufer und Läuferinnen gingen nur noch. Endlich hechelnd oben angekommen, stürzte ich an der Verpflegungsstation zwei bis drei Becher isotonisches Getränk in mich hinein, dann machte ich mich sofort wieder auf den Rückweg.

Trotz der Hitze ging es jetzt etwas besser. Zum einen verschaffte das schnellere Bergablaufen eine gewisse Kühlung, zum anderen kam ein mäßiger Wind auf, der die hohen Temperaturen besser ertragen ließ.

Nach etwa zwei Dritteln der Strecke war ich mir sicher, trotz des wenigen Trainings durchzuhalten. Eine Windböe raubte mein Kappl; da ich noch ein Stirnband gegen den Schweiß dabei hatte, kam zurücklaufen nicht in Frage. Völlig ausgelaugt lief ich ins Stadion ein, wo Dieter und Uli schon sehnsüchtig auf meine Ankunft warteten. Erschöpft sank ich auf das Gras. Einen Ultra-Bewerb haben wir nicht mehr gemacht.

* * *

Eine Neuauflage des bewährten Neufahrner Triathlons stand an. Da kannten wir uns aus.

Dieter hatte sich im Vorfeld in nicht geringe Kosten gestürzt und bei Radsport Menzl eine neue Rennmaschine anfertigen lassen. Er strahlte bei jeder Vorführung und hatte dank der technischen und ballistischen Verbesserungen den sicheren Sieg greifbar nahe vor Augen. Doch so leicht gab ich mich nicht geschlagen.

Bei unseren Trainingsfahrten hielt ich mich zurück, klagte über Schlappheit und müde Beine. Dieter schmunzelte. Fuhr ich dagegen mit dem Zauderer aus, fuhr ich, was das Zeug hielt. So ging das vielleicht zwei Wochen lang.

Kurz vor besagtem Termin ließ ich auf mein Rad eine neue Kette aufziehen. Das glitzernde Ding war zumindest ein zusätzlicher psychologischer Vorteil.

Am Bewerbstag fiel ich wie immer beim Schwimmen weit zurück. Auf dem Rennrad gab ich alles und versuchte, den Abstand zu Dieter nicht zu groß werden zu lassen. Da kein Sichtkontakt bestand, fuhr jeder wie üblich sein eigenes Rennen.

Dann kam der Lauf. Ich kannte die Strecke und war gut drauf. Beherzt lief ich los. Ich traute meinen Augen kaum, als nach etwa einer halben Stunde der technische Direktor in der Ferne auszumachen war. Also war der Abstand nicht so groß gewesen, wie zunächst befürchtet.

Ich lief mein Tempo weiter und stellte fest, dass ich ganz langsam zu ihm aufschloss. Schließlich, vor der letzten Anhöhe, war ich mir sicher, dass ich Dieter noch einholen konnte.

Als es dann soweit war, drehte er sich nicht einmal um. Er hatte seinen Trainingspartner wohl an der Schrittfrequenz erkannt. Kurz bevor ich an ihm vorbeizog, murmelte er: „Meine Taktik geht wohl nicht ganz auf!“

* * *

Im nächsten Jahr hatte Dieter ein Forschungssemester. Er hatte sich zum ersten Mal einen mittleren Triathlon zum Ziel gesetzt und seine Forschungen konzentrierten sich unter anderem auf zwei Trainingseinheiten pro Tag. Das gab es noch nie.

Für mich kam eine mittlere Strecke wegen der leidigen Schwimmerei nicht in Frage. Wir benützten jedoch wiederum den Neufahrner Bewerb, um dem Mittel-Triathleten eine Trainingseinheit aus der Praxis angedeihen zu lassen. Diesmal war er so gut drauf, dass ich ihn beim Laufen nicht mehr einholen konnte; eine Stadionrunde war er am Schluss voraus.

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Viel könnte noch über jenen Dozenten Kattenbusch berichtet werden, doch dann hätte ich ein eigenes Buch schreiben müssen …

Nach seinem Umzug nach Gießen lief ich mit verminderter Drehzahl etwa ein halbes Jahr weiter. Doch dann fehlten mir Ansporn und Aktivitäten des technischen Direktors. Folglich frönte ich immer mehr meiner anderen, älteren Leidenschaft: dem Bergsteigen mit und ohne Ski sowie dem Gleitschirmfliegen.

Auch in den Bergen ergaben sich wieder viele neue Möglichkeiten einer gemeinsamen spielerisch-sportlichen Betätigung.

Jeweils im August, wenn Dieter in seinem geliebten Seefelder Feriendomizil weilt, unternehmen wir zusammen in den angrenzenden Gebirgen ausgedehnte und interessante Touren.

Momentan befindet sich Dieter etwa in der Mitte einer München-Venedig-Fernwanderung, die er mit Freunden aus Ossinien3 abschnittsweise durchführt. Für diesen Sommer – gemeint ist das Jahr 2011 – haben die Tuxer und Zillertaler Berge gerufen.

Für manche Abschnitte klinke ich mich ein, allerdings liegen mir Flachetappen nicht besonders. So habe ich München – Bad Tölz geschwänzt und auch in Venedig werde ich vermutlich nicht mit einlaufen: Dieses zweifelhafte Vergnügen, über eine schier endlos lange Brücke zu laufen, und noch dazu bei Regen und Gegenwind, habe ich schon bei meinem zweiten Marathon – leider ohne Dieter, der gemeldet, aber verhindert war – zur Gänze ausgekostet und vorweggenommen.

Anmerkungen

1 Dieter hatte einmal einen Arbeitsurlaub bei Alfred Welker in den Slums von Cali/Kolumbien verbracht; siehe Kattenbusch, Dieter: Cali. Tagebuch eines anderen Urlaubs, Berlin 1997.

2 Für Nur-Klassik-Fans: ein langer rauschender Vollbart, wie er in Bayern und zuweilen auch von texanischen Rockmusikern getragen wird.

3 So nenne ich seit einiger Zeit achtungsvoll das Gebiet der ehemaligen DDR.