Lieber Dieter!

Ohne jeden Zweifel ist die Basis unserer nunmehr ins vierte Jahrzehnt eingetretenen Freundschaft die Feldforschung, also die immer wieder leidenschaftlich und zugleich programmatisch gesuchte persönliche Begegnung mit den Sprechern romanischer Varietäten. Das gilt sowohl für die Ebene des Allgemeinen als auch jene des Besonderen, auf welcher in unserer Freundschaft die Arbeit am bzw. rund um den ALD seit langem eine besondere Rolle gespielt hat und dies noch immer tut. Das in der Folge aus Anlass Deines Jubiläums in lapidarer Kürze abgehandelte Thema ist Dir natürlich nicht neu und wurde zwischen uns schon mehrfach mündlich erörtert. Da es aber vielen weniger felderfahrenen und an Kulturellem eher sekundär interessierten Romanisten weitgehend unbekannt ist, scheint es mir nützlich zu sein, unseren einschlägigen Gesprächen just in Deiner Festschrift eine schriftliche Form zu geben.

Echten Feldforschern ein langes Leben zu wünschen, kommt dem bekannten Import von Eulen nach Athen sehr nahe. Dennoch: ad multos, per multos felicesque annos, carissime Theodorice!

1 Antezedenzien

Zwar sind weder der erste noch der zweite Teil des Atlante linguistico del ladino dolomitico e dei dialetti limitrofi (ALD) mit einer explizit ausgewiesenen Sachkomponente versehen worden und können daher neben dem selbstverständlichen Prädikat linguistico zusätzlich nicht noch auf das Prädikat etnografico Anspruch erheben. Dennoch war bei beiden Projektteilen vorgesehen, dass sich die Exploratoren vor bzw. neben ihrer Befragungsarbeit sehr genau in den betreffenden Ortschaften umsehen. Dazu gab es in den beiden Fragebüchern entsprechende Checklisten, unter denen sich auch ein Item befand, das sich auf den örtlichen Friedhof bezog. Im Zuge diverser, eher kursorisch absolvierter Feldbesuche in der ALD-Zone war mir nämlich aufgefallen, dass es auf den Friedhöfen im Norden des ALD-Gebiets eher „wie bei uns“ (i.e. in Österreich, Deutschland und der Schweiz) aussah, wohingegen auf den Friedhöfen am Südrand des ALD-Gebiets neben den uns vertrauten Erdgräbern auch oberirdisch angelegte Betonkonstrukte oft von erstaunlicher Höhe zu sehen waren, in denen die Toten in geometrisch angeordneten Nischen ruhten, wozu eine rasche Rückfrage vor Ort den Sachbegriff loculo (für die Nische) und das Nomen actionis tumulazione (für die Verbringung eines Toten in eine solche Nische) zutage förderte. Das mag alles am Beginn oder in der Mitte der 1970er Jahre passiert sein.

Hans Goebl - Portrait


Hans Goebl, o. Univ.-Prof. Dr., geb. 1943 in Wien, ab 1982 Ordinariat aus Romanischer Linguistik in Salzburg. In Wien (und in Graz) Schule und Universitätsstudium aus Romanistik und Alter Philologie (Doktorat) bzw. für das Lehramt an Gymnasien (Latein, Französisch). Tätigkeit als Gymnasiallehrer: 1967–1973; kontinuierlich auf Universitätsboden (Regensburg, Berlin, Salzburg): seit 1973. Hauptbeschäftigungsgebiete (stets dia- und synchron, empirisch und theoretisch, qualitativ und quantitativ): Gallo-, Italo- und Rätoromanistik, neuerdings auch Ibero- und Dakoromanistik; dazu viel Interdisziplinäres mehr oder weniger krauser Art.
Dieter war mein Nachfolger auf dem von mir 1973–1980 unter dem malerischen Namen „Wissenschaftliche Hilfskraft mit den Aufgaben und Bezügen eines Verwalters der Dienstgeschäfte eines wissenschaftlichen Assistenten“ bekleideten Mittelbauposten an der Uni Regensburg. In der Zeit zwischen 1980 und 1982 sprang nicht nur der rätoromanistische Funke von mir auf ihn über, sondern entstand auch eine sehr solide Freundschaft, die sich aus vielen gemeinsamen wissenschaftlichen Interessen und persönlichen Neigungen speiste und dies immer noch tut.

Abb. 1: Zusammentreffen zweier Begräbnisformen

Zusammentreffen zweier
		                         Begräbnisformen

Wie auch immer: Sowohl beim ALD-I als auch beim ALD-II haben unsere Exploratoren (semper utriusque sexus generisque) die Vorgaben der beiden Fragebücher genau befolgt, überall das Vorhandensein (o meno) von loculi vermerkt und zudem in fast allen der zu untersuchenden 217 Fälle sehr expressive Fotografien der betreffenden Friedhöfe nach Hause bzw. nach Salzburg gebracht. Allerdings ist es erst im Jahr 2009 zu einer synoptischen Kartierung der erhobenen Daten gekommen: siehe dazu Abb. 1. Die darauf zutage tretende Raumstruktur hat mich förmlich elektrisiert und veranlasst, dem gesamten damit verbundenen Fragenkomplex nicht nur in romanischer, sondern in paneuropäischer Perspektive im Wege umfassender Lektüren und Recherchen gründlich nachzugehen.

In der Tat ist für einen mit den sprachlichen Dynamismen der ALD-Zone vertrauten Linguisten die auf Abb. 1 sichtbar werdende Raumstruktur „ganz einfach“ zu lesen: Es handelt sich um ein Raumprofil, welches das (hellgrau markierte) Erdbegräbnis (inumazione) in rezessiver bzw. konservativer und die (nirgends allein auftretende) Tumulierung (dunkelgrau markiert) in expansiv-innovativer Funktion zeigt. Das Raumprofil der Abb. 1 legt also die Vermutung nahe, dass vor einer noch näher zu bestimmenden Zeit die dunkelgraue Zone deutlich kleiner bzw. sogar gänzlich inexistent war.

Die Frage ist nur: Um welche Zeiträume handelt es sich da? Und welche kulturellen bzw. sozialen Faktoren haben dazu beigetragen, die aus der Karte erahnbare Dynamik in Gang zu setzen und voranzutreiben? Und schlussendlich: Was ist eigentlich der kapitale Unterschied zwischen einem Erdbegräbnis der uns vertrauten Art und einem Nischenbegräbnis, das ganz offenbar „südlich von uns“ beheimatet ist?

2 Kurze Geschichte des europäischen Friedhofswesens

Bei der Durchsicht der einschlägigen Fachliteratur und der Konsultation zahlloser Internetseiten1 stellt sich sehr rasch heraus, dass das heute beobachtbare Friedhofswesen Europas in einer just für Romanisten höchst interessanten Weise zweigeteilt ist: Die drei südromanischen Länder Portugal2, Spanien3 und Italien4 kennen die in der Folge noch näher zu beschreibende Tumulierung (tumulazione), während der gesamte Rest Europas – unter Einbezug auch seiner orthodoxen Teile – weitgehend den uns bekannten Bräuchen folgt. Das ist ein moderner Befund, der natürlich früher anders ausgesehen hat.

Abb 2: Bozen

Kommunalfriedhof in Bozen

Auszugehen ist davon, dass das Christentum von der Antike die Feuer- und die Erdbestattung übernommen, aber sehr rasch die erste Form zur Ausnahme und die zweite Form – weil zahlreichen biblischen Empfehlungen entsprechend – zur Regel erklärt hat. Allerdings hat sich bereits in merowingischer Zeit allem Anschein nach im ganzen, damals christlichen Europa im Zuge des Versuchs, den Toten eine spezielle Ehrung zukommen zu lassen, in fortschreitendem Maß der Brauch etabliert, die Verstorbenen ad sanctos, d.h. inner- oder unterhalb bzw. in unmittelbarer Nähe von Kirchen, zu bestatten. Dies hatte zwei Konsequenzen: die rasch eintretende Überfüllung der Kirchen mit Grabstellen (und das damit verbundene Auftreten schwer zu bemeisternder hygienischer Probleme) und die in periodischen Zyklen notwendig gewordene Exhumierung und Umbettung der Toten mit dem Ziel, auch den nachfolgenden Generationen einen (vorübergehenden) Begräbnisplatz ad sanctos zu sichern.

Eine direkte Folge der Praxis der Exhumierung war die Errichtung von Beinhäusern (oder Karnern) und Ossarien. Von den ersteren sind während des Hoch- und Spätmittelalters gerade im alpinen und danubianischen Raum architektonisch sehr ansprechende Exemplare in großer Zahl gebaut worden, wovon einige bis heute erhalten sind und touristisch besucht werden können.5

Aus anthropologischer Sicht sind die im Mittelalter wohl überall in Europa anzusetzenden Verhältnisse als „zweifaches Begräbnis“ zu bezeichnen, da ja immerhin ein und derselbe Verstorbene zweimal – d.h. unmittelbar nach seinem Tod und dann auf dem Wege der Einbringung seiner Reste in einen Karner – zur Ruhe gebettet wird. Es hat aber auch den Anschein, dass der Umstand des doppelten Begräbnisses – der immerhin mit der Vorstellung der Störung der jedem Toten gebührenden Ruhe verbunden werden kann – in kirchlichen Kreisen à la longue Widerstand hervorgerufen hat. Tatsache ist jedenfalls, dass sich – ausgehend von einer kleinen Schrift Martin Luthers aus dem Jahr 15276 – im von der Reformation erfassten Teil Europas eine neue Auffassung von Tod und Begräbnis ausgebreitet hat, die nicht die Ehrung der Toten bzw. der ihnen zukommenden Gebeine, sondern deren Ruhe bzw. Schlaf in den Vordergrund gestellt hat.

Abb 3: Riva di Garda (Trentino)

Bild 3: Friedhof in Riva

Konkret hat sich das in Mittel- und Nordeuropa zunächst so geäußert, dass die Begräbnisse ad sanctos immer seltener wurden, die bisher üblichen, eng um die Kirche gescharten Friedhöfe (Kirchhöfe bzw. Gottesacker) v.a. in mittleren und größeren Städten zu vor der Stadt neu angelegten, parkartigen Anlagen mutierten und durch die Proskribierung des Mehrfachbegräbnisses die Karner zunächst funktionslos wurden, dann immer mehr verfielen und zuletzt meist – glücklicherweise nicht immer und überall – abgerissen wurden. Am Ende dieser Entwicklung steht der heute auf allen uns vertrauten Friedhöfen übliche Brauch, die einmal in eine bestimmte Erdgrabstelle verbrachten sterblichen Reste ebendort auf alle Zeit zu belassen und, im Falle der Neubelegung der betreffenden Grabstelle, um ein paar Zentimeter tieferzulegen.

Aus anthropologischer Sicht liegt damit der Sachverhalt des Einfachbegräbnisses vor, womit zudem die Vorstellung der als naturrechtliches Gut zu betrachtenden Totenruhe7 verbunden ist. Für die romanischen Länder (mit der Ausnahme von Frankreich und Rumänien) hat das mit der Mehrfachbestattung verbundene ad sanctos-Prinzip bis weit in das 18. Jahrhundert seine volle Geltung behalten und wurde erst in diesem Zeitraum im Zeichen der Aufklärung durch verschiedene, „von oben“ erlassene Reformen modifiziert bzw. außer Kraft gesetzt.8

Abb 4: Brescia, Cimitero comunale

Brescia, Cimitero comunale

Die bekannteste davon ist ein von Kaiser Napoleon im Jahr 1804 in Saint-Cloud erlassenes Dekret, das für die damals von ihm beherrschten Gebiete explizit vorschreibt, die Toten individuell (und nicht in Massengräbern) sowie in der Erde zu bestatten, daneben allerdings auch festlegt, die Toten bzw. deren Reste nach fünf Jahren zu exhumieren, um die Grabstelle anderwärts neu vergeben zu können. Man erkennt sofort, dass das Edikt von Saint-Cloud nicht im Zeichen des Einfach-, sondern des Mehrfachbegräbnisses und somit in einer Tradition steht, die nicht als „mitteleuropäisch“ bezeichnet werden kann.

Doch betrachten wir in aller Kürze die heute in Italien für tumulazione und inumazione üblichen Normen. Vorauszuschicken ist, dass zur Zeit der unità d’Italia (1861) beide Bestattungsformen auf allen Friedhöfen Mittel- und Süditaliens nebeneinander existierten und sich das neue Staatswesen sehr rasch anschickte, für beide Modalitäten entsprechende Rechtsnormen von gesamtstaatlicher Wirksamkeit zu schaffen. Letzteres galt bis vor ein paar Jahren, als die ersten Schritte zur Abtretung dieser Kompetenzen an ausgewählte Regionen Italiens gesetzt wurden. Bei der in der Folge präsentierten Charakterisierung von tumulazione und inumazione lasse ich die auch in Italien in den 1870er Jahren langsam aufgekommene (und bis heute nur zu geringer Verbreitung gelangte) Begräbnisform der Einäscherung (incinerazione) außer Betracht. Ihre italienische Spielart bietet zudem – im gesamteuropäischen Vergleich – keine ins Auge fallenden Besonderheiten.

Abb. 5: Malcésine (Veneto), Cimitero comunale

Bild 5: Malcésine (Veneto),
		                         Cimitero comunale.

Auf den heutigen italienischen Friedhöfen werden die Begräbnisarten tumulazione, inumazione und incinerazione im landesweiten Durchschnitt folgendermaßen genützt: 60 Prozent, 25 Prozent und 15 Prozent. Dabei kann der Prozentsatz für die tumulazione im Süden gegen 100 Prozent tendieren und jener der incinerazione im (äußersten) Norden die 50-Prozent-Marke übersteigen. Die landesweit stabilste Form des Begräbnisses ist also die – im allgemeinen Sozialprestige allerdings nicht ganz oben stehende – inumazione.

Der cursus requiescendi präsentiert sich bei der tumulazione nicht nur nach allgemein überliefertem Brauch, sondern vor allem nach dem Willen des Gesetzgebers wie folgt: Einbettung des Verstorbenen in einen Doppelsarg aus Holz (außen) und Zink (innen), Verbringung des Doppelsarges in einen heute im Regelfall für allerlängstens 25 Jahre mietbaren loculo.9

Abb. 6: València (Spanien), Cementiri general

Bild 6: València (Spanien),
		                         Cementiri general.

Nach Ablauf dieser Zeit erfolgt – fallweise unter direkter Anwesenheit der Hinterbliebenen – die obligatorische estumulazione und die Verbringung der aufgefundenen Reste an eine neue Stelle des betreffenden Friedhofs. Diese kann – je nach Zustand dieser Reste – ein campo per inconsunti oder ein ossarietto (Beinbehälter: etwa 70 cm in drei Dimensionen) sein, welch letzterer – zusammen mit einer den Namen und die Lebensdaten des Verstorbenen kundgebenden Tafel – erneut in oft übermannshohen Betonwänden untergebracht werden kann.

Die mit dem campo per inconsunti verbundenen Kultureme sind allerdings für unsere Auffassungen sehr gewöhnungsbedürftig.10 Im laut Gesetz hermetisch dichten Holz-Zink-Doppelsarg kommt es in 80 Prozent aller Fälle zu keinerlei Verwesung. Bei der Sargöffnung findet man meistens mumienartige Leichen, die – erneut zufolge Gesetz – in einem Spezialsektor des betreffenden Friedhofs („campo per inconsunti“) für fünf Jahre zur (chemikalisch beförderten) Nachverwesung beigesetzt werden müssen. Nach Ablauf dieser Frist erfolgt eine erneute Exhumierung, die mit der Hoffnung verbunden ist, nunmehr die aufgefundenen Reste einem ossarietto anvertrauen zu können. Sofern dies trotz allem noch immer nicht möglich ist, kommt es in manchen italienischen Friedhöfen zur obligatorischen Einäscherung der unverwest verbliebenen Reste und der Übergabe der Asche an die Hinterbliebenen. Andernfalls erfolgt eine erneut auf fünf Jahre befristete Einbringung in einen campo per inconsunti.

Hinzuzufügen ist, dass auf den meisten italienischen Friedhöfen die estumulazione und die nachfolgende Belegung der campi per inconsunti nicht individuell, sondern geblockt für eine große Anzahl von Toten sowie erst nach dem Verstreichen einer breit angelegten Informationskampagne an die Adresse der Hinterbliebenen stattfindet. Auch die Verweildauer der Reste eines Toten in den ossarietti ist begrenzt und Gegenstand eines entsprechenden Mietvertrags: meist für zehn Jahre. Sofern keine Verlängerung begehrt wird, erfolgt nach Ablauf dieser Frist die Einbringung der Reste in das allgemeine ossario, worüber jeder italienische Friedhof ex lege verfügt.

Abb. 7: València (Spanien), Cementiri de Benimaclet

Bild 7: València
		                                     (Spanien),
		                                     Cementiri de Benimaclet.

Alles in allem wird also bei der tumulazione ein Verstorbener durchschnittlich viermal umgebettet, wobei sein cursus quiescendi bei der Einbettung in einen loculo beginnt und beim ossario endet. Bei der inumazione kommt es durchschnittlich nur zu drei Umbettungen: Ein in einem Holzsarg in einem Erdgrab Bestatteter darf zufolge Gesetz in diesem nur zehn Jahre ruhen bzw. verbleiben. Darnach erfolgt die Exhumierung der Reste mit dem Ziel, das betreffende Erdgrab gebeinfrei an den nächsten Nutzer übergeben zu können. Für die exhumierten Reste ergeben sich als Alternativen die Einäscherung oder die (erneut zeitlich befristete) Bestattung in einem ossarietto. Darnach endet auch hier der cursus quiescendi im örtlichen ossario. Hinzuzufügen ist, dass für alle Bestattungsetappen stets neue religiöse (oder andere) Feierlichkeiten vorgesehen sind, deren Umfang aber mit der Zeit abnimmt.

Das hier in zwei Spielarten vorgestellte Mehrfachbegräbnis führt zu einer Besonderheit, die von den um einen weltweiten Kulturvergleich bemühten Anthropologen ganz besonders beachtet und dementsprechend bezeichnet wird: nämlich zur circolazione delle ossa, die – wie wir gesehen haben – im Mittelalter europaweit verbreitet war und sich seit den Zeiten der Reformation aus dem Bereich Mittel-, Nord- und Osteuropas ganz zurückgezogen hat.11

Abb. 8: Oviedo (Spanien), Cementerio San Salvador

Bild 8: Oviedo
		                                     (Spanien), Cementerio San Salvador

Vor allem in Spanien, auf dessen Friedhöfen richtiggehende Totenhäuser zu finden sind,12 in denen die Toten in nichos (span.) oder nínxols (katal.) ruhen, existiert eine sehr ähnliche circolazione delle ossa, die allerdings seit alters her um eine Etappe kürzer ist: In Spanien liegen die Toten in den nichos bzw. nínxols in einfachen Holzsärgen, so dass – auch angesichts des dort relativ warmen Klimas – die rasche und gänzliche Ossifizierung der Leichname sichergestellt ist. Einrichtungen, die den italienischen ossarietti und ossari vergleichbar sind, werden auch dort genützt. Doch entfällt die mit den campi per inconsunti verbundene Mühsal gänzlich.

3 Zurück zum ALD bzw. zur Botschaft der Abbildung 1

Im Lichte der in Kapitel 2 dargelegten, einigermaßen gewöhnungsbedürftigen Sachverhalte habe ich die langjährige Mitarbeiterin des ALD-II, Brigitte Rührlinger, gebeten, in den zu beiden Seiten der Grenze zwischen Hell- und Dunkelgrau gelegenen Ortschaften Nachforschungen zu den dortigen Friedhöfen durchzuführen. Diese erfolgten in aller Regel telefonisch und anhand eines genau festgelegten Gesprächsleitfadens. Als Gesprächspartner konnten dazu meistens jene Gemeindeangestellten gewonnen werden, die mit der Verwaltung der Friedhöfe befasst sind. In der Mehrzahl der Fälle ergab sich dabei ein konstruktives und offenes Gesprächsklima, wofür allerdings Voraussetzung war, dass sich Brigitte Rührlinger ihren Gesprächspartnern als in funeralibus bestens vorinformierte Fachfrau vorstellen konnte. Erstaunlicherweise fielen die örtlichen Geistlichen in dieser Causa als Gesprächspartner fast gänzlich aus.

Die Fragen des Leitfadens zielten vor allem auf zwei Bereiche: auf den Zeitraum des ersten Auftauchens von loculi auf den örtlichen Friedhöfen sowie auf die Frage eines eventuell vorhandenen Prestigeunterschiedes zwischen dem traditionellen Erd- und dem deutlich jüngeren Nischenbegräbnis.

Zur Zeitfrage: Grosso modo scheint das Nischenbegräbnis in den kleineren Ortschaften der ALD-Zone vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt worden zu sein. Vor dem Ersten Weltkrieg dürfte es nur in den größeren Städten (wie Trient oder Bassano del Grappa) vorhanden gewesen sein. Episodenweise wurde erwähnt, dass in den friaulischen Dörfern die Nischengräber von der erst im Jahr 1963 installierten Regionalverwaltung ganz besonders favorisiert worden seien.

Zur Prestigefrage: Hier waren keine eindeutig bewertbaren Antworten zu erhalten. Oft wurde von den Friedhofsverantwortlichen erwähnt, dass die Leute aus nicht näher bekannten Gründen nach Nischengräbern verlangt hätten und diese deshalb auf dem örtlichen Friedhof eingerichtet worden seien. Nur in Einzelfällen wurde die Frage explizit bejaht, ob das Prestige der Nischengräber jenes der Erdgräber übersteige. Aus den Befragungen ergab sich aber keineswegs der Eindruck, dass das Erdbegräbnis einen entscheidenden Prestigeverlust erlitten hätte.

Unter den wenigen befragten Geistlichen gab es allerdings sehr harsche Stimmen gegen das Nischenbegräbnis, das als ortsfremd, unchristlich und zeitgeistig bezeichnet wurde.

In Einzelfällen wurde explizit auf örtliche Widerstände gegen die Etablierung des Nischenbegräbnisses hingewiesen: So habe zwar die Stadt Trient das Nischenbegräbnis seit dem 19. Jahrhundert auf ihrem innerstädtischen Friedhof etabliert, doch weigerten sich die kleinen Ortschaften in der unmittelbaren Umgebung Trients („rioni“) bis heute standhaft, dieses auch bei sich zu akzeptieren.

Alles in allem entstand der Eindruck einer Spielart eines prototypischen Peripherie-Zentrum-Konflikts: Von der hier als Peripherie fungierenden ALD-Zone schien das Nischenbegräbnis als Eigen- bzw. Errungenschaft eines in seiner Führungsrolle mehr implizit als explizit akzeptierten Zentrums schrittweise übernommen worden zu sein. Dieses „Zentrum“ ist nach der Lage der Dinge natürlich das „Innere“ Italiens. In sehr grober typologischer Vereinfachung könnte man daher in der von Süd nach Nord stattgehabten Diffusion des Nischenbegräbnisses eine Art kultureller Anpassung an den Süden sehen, die man auch als „Italianisierung“ einstufen könnte.

Dass diese Sicht der Dinge nicht unpassend ist, kann an zwei Beispielen aus der weltweiten „Italophonie“ verdeutlicht werden, auf deren erstes ich durch reinen Zufall gestoßen bin.

4 tumulazione als identitätsstützendes Merkmal in der italienischen Diaspora

4.1 Der Fall Montréal (Kanada)

Es geht dabei um den Friedhof Notre-Dame-des-Neiges, der derzeit die größte Begräbnisstätte Montréals ist.13 Er existiert seit 1854 und wurde seit dieser Zeit exklusiv für Erdbegräbnisse verwendet, wobei sich die Begräbnisbräuche der Franko- und Anglo-Kanadier diesbezüglich weitgehend identisch verhielten. Dieser Friedhof liegt leicht oberhalb des eigentlichen Stadtkerns von Montréal und hat eine leicht hügelige Konfiguration. Ein Lokalaugenschein ergibt einen durchaus als „mitteleuropäisch“ anzusprechenden Befund, wenn man von der unübersehbaren Besonderheit absieht, dass die verschiedenen Ethnien der weltoffenen Einwanderungsstadt Montréal ihre Toten ganz offenbar in ihnen speziell zugewiesenen Sektoren des Friedhofs bestatten durften.

Was nun aber im wahrsten Wortsinn ins Auge sticht, sind am Friedhofsrand errichtete mausolées in Gestalt kompakter, mehrstöckiger Häuser, die allesamt illustre Namen tragen: Notre-Dame, Jean-Paul II, Saint-François etc. Auf Nachfrage erfährt man,14 dass das erste dieser „Mausoleen“ im Jahr 1978 und das bislang letzte im Jahr 2008 eröffnet worden ist. Jedes dieser mausolées enthält mehrere Tausend niches, von denen der Großteil die Funktion eines loculo erfüllt und nur ein geringer Teil der Aufnahme von Aschenurnen dient.

Abb. 9: Montréal (Kanada), Cimetière Notre-Dame-des-Neiges

Bild 9: Montréal
		                                     (Kanada), Cimetière
		                                     Notre-Dame-des-Neiges.

Beim Besuch dieser Mausoleen fällt zweierlei auf: dass praktisch alle der auf den diversen niches vermerkten Vor- und Familiennamen etymologisch italienischen Ursprungs15 sind, und auch, dass es kaum mehr freie niches gibt und somit die Nachfrage darnach sehr groß gewesen sein muss.

Angesichts der auf den niches vermerkten Todesdaten – von denen viele deutlich vor dem Jahr 1978 liegen – lässt sich ableiten, dass es auf der Grundlage der seit jenem Jahr angebotenen neuen Möglichkeiten viele Italophone16 als besonders attraktiv angesehen haben, ihre bis dato (gemeinschaftlich mit Verstorbenen aus vielen anderen Kulturräumen) in der Erde ruhenden Toten exhumieren und in eine niche einbetten zu lassen, sofern sie nicht diesen Vorgang für den Fall des eigenen Ablebens durch Ankauf einer niche sichergestellt haben.

Abb. 10: Lissabon, Cemitério dos Prazeres

Bild 10: Lissabon,
		                                     Cemitério dos Prazeres.

Ganz bewusste Wahl des Begräbnisortes der niche statt einer tombe als identitätsmarkierendes Symbol der eigenen italianità? Dass an der Annahme, dass für die internationale italienische Diaspora das Nischenbegräbnis eine ganz spezielle Attraktivität besitzt, „etwas dran“ sein muss, zeigt der nächste Fall, der uns nach Deutschland, genauer: nach Saarbrücken, führt.

4.2 Der Fall Saarbrücken (Deutschland)

Während ich auf den eben geschilderten Fall (Montréal) zufällig bzw. im Verlauf einer Reise gestoßen bin, verdanke ich die Kenntnis des „Falles Saarbrücken“ meinen bereits systematisch vorgenommenen funeralen Recherchen. Es geht dabei um den Saarbrückener Hauptfriedhof und das im Jahr 2007 mit Nachdruck geäußerte Verlangen der im Raum Saarbrücken ansässigen italienischen Gemeinde17, auf eben diesem Friedhof in Analogie zu den mit eigenen Grabstellen bedachten Muslimen „oberirdische Grabkammern“ zu erhalten. Die Homepage des fraglichen Friedhofs18 weist sogar den vollen Namen des für die Errichtung der bislang rund 80 Grabkammern (loculi) besonders aktiv gewordenen italienischen Mitglieds des örtlichen „Integrationsbeirats“ aus.

Im direkten Gespräch mit diesem und mit den in dieser Causa tätig gewordenen Angestellten der Saarbrückener Friedhofsverwaltung ergab sich ganz eindeutig, dass vonseiten der in Saarbrücken ansässigen Italiener der Begräbnisform der tumulazione eindeutig und ganz entschieden der Vorrang vor der vor Ort altetablierten inumazione gegeben wurde. Und zwar im Zeichen bzw. im Namen der eigenen kulturellen bzw. nationalen identità.

Die ab 2008 zur Verfügung gestellten Grabkammern sind inzwischen fast zur Gänze an italophone Interessenten vermietet worden. Zwischenzeitlich habe ich erfahren, dass sich im Saarland ein ähnlich gelagertes Vorkommnis auch in Völklingen ereignet hat.

5 Quintessenz

Im Lichte der Fälle Montréal und Saarbrücken erscheint die in Abschnitt 3 geäußerte Vermutung, dass die heute in der ALD-Zone beobachtbare Verteilung zwischen inumazione und tumulazione mit einer kulturell induzierten Dynamik speziell „italienischer Provenienz“ zu tun haben könnte, als durchaus plausibel. Es wird Sache weiterer Reisen und systematischer Beobachtungen sein, ähnliche Erscheinungen auch für hispano- und lusophone Diasporagruppen aufzuzeigen, wobei natürlich deren Zusammentreffen mit italophonen Gruppen – wie dies z.B. ganz sicher in Argentinien der Fall sein dürfte – von besonderem Interesse wäre.

Für den Linguisten ist im Falle des ALD ganz besonders interessant, dass sich die Aufmarschwege dieser Dynamik weitgehend mit jenen decken, die für sprachliche Innovationen aus dem Italienischen ermittelt werden konnten.19 Das ist eine kulturwissenschaftlich relevante Erkenntnis, die durchaus mit jenen volkskundlich relevanten Entdeckungen verglichen werden kann, die der Hauptexplorator des AIS, Paul Scheuermeier, bei seinen Peregrinationen in der Italo- und Rätoromania machen konnte.20

Anmerkungen

1 Eine weitere, unersetzliche Informationsquelle stellen zahlreiche Gespräche mit Friedhofsverantwortlichen sowie direkte Besuche von Friedhöfen in aller Herren Länder dar.

2 Siehe dazu Abb. 10.

3 Siehe dazu Abb. 6, Abb. 7 und Abb. 8.

4 Siehe dazu Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4 und Abb. 5.

5 Siehe dazu beispielsweise Sörries 1996.

6 Voller Titel: Ob man vor dem Sterben fliehen möge. Zur ganzen Frage cf. Sörries 2009, 104f.

7 Damit hängen auch in unseren Breiten die Verrechtlichung des Sachverhalts der Totenruhe und die strafrechtliche Verfolgung von deren Störung zusammen.

8 Siehe dazu die periodenübergreifend berichtenden Arbeiten von Auzelle 1965, Redemagni 2004, Sörries 2009, Sozzi 2009 und Tomasi 2001, alle passim.

9 Siehe zu den in Italien anzutreffenden Verhältnissen Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4 und Abb. 5.

10 Siehe dazu vor allem Abb. 4.

11 Siehe dazu auch Poppi 2006 sowie Poppi/Goody 2006.

12 Siehe dazu vor allem Abb. 6 und Abb. 7.

13 Siehe dazu Abb. 9.

14 Siehe dazu http://www.cimetierenddn.org/.

15 Eine stichprobenartige Auszählung ergab das Verhältnis von 97 Prozent (italienische Namen) zu 3 Prozent (portugiesische Namen).

16 Im Großraum Montréal leben rund 200 000 Italophone, die ihre kulturelle und sprachliche Identität noch sehr gut bewahrt haben.

17 Diese umfasst in numerischer Hinsicht ca. 5000 Köpfe und stammt größtenteils aus Süditalien und Sizilien.

18 Siehe dazu http://www.saarbruecker-friedhoefe.de/assets/2011_4/1301645866_faltblatt_oberirdische_grabkammern_maerz_2011.pdf.

19 Siehe dazu die Profile jener Ähnlichkeitskarten, die von Roland Bauer bei der Dialektometrisierung der Daten des ALD-I zum Kunstpunkt Italienisch (P. 999) ermittelt wurden: Bauer 2009, 208f. (Karten 22 und 23).

20 Siehe dazu beispielsweise Scheuermeier 1934 (Karten: ibidem 61ff.).

Literatur

AIS = Jaberg, Karl/Jud, Jakob (1928–1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, 8 Bde., Zofingen.

ALD-I = Goebl, Hans/Bauer, Roland/Haimerl Edgar et al. (Hg.) (1998): Atlant linguistich dl ladin dolomitich y di dialec vejins, 1a pert. Atlante linguistico del ladino dolomitico e dei dialetti limitrofi, 1a parte. Sprachatlas des Dolomitenladinischen und angrenzender Dialekte, 1. Teil, 7 Bde., Wiesbaden.

Auzelle, Robert (1965): Dernières demeures. Conception, composition, réalisation du cimetière contemporain, Paris.

Bauer, Roland (2009): Dialektometrische Einsichten. Sprachklassifikatorische Oberflächenmuster und Tiefenstrukturen im lombardo-venedischen Dialektraum und in der Rätoromania, San Martin de Tor.

Poppi, Cesare (2006): Flowers and Bones: Posthumous Reflections, in: Aram A. Yengoyan: Modes of Comparison: Theory and Practice, Ann Arbor, 457–476.

–/Goody, Jack (2006): Flowers and Bones: Approaches to the Dead in Anglo-American and Italian Cemeteries, in: Aram A. Yengoyan: Modes of Comparison: Theory and Practice, Ann Arbor, 420–456.

Redemagni, Paola (2004): I cimiteri, Mailand.

Scheuermeier, Paul (1934): Wasser- und Weingefässe im heutigen Italien. Sachkundliche Darstellung auf Grund der Materialien des Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, Bern.

Sörries, Reiner (1996): Die Karner in Kärnten. Ein Beitrag zur Architektur und Bedeutung des mittelalterlichen Kirchhofs, Kassel.

– (2009): Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs, Kevelaer.

Sozzi, Marina (2009): Reinventare la morte. Introduzione alla tanatologia, Roma/Bari.

Tomasi, Grazia (2001): Per salvare i viventi. Le origini settecentesche del cimitero extraurbano, Bologna.