Auf Grundlage dieser Daten bieten sich vielfältige Möglichkeiten sprachwissenschaftlicher Anschlussforschung, von denen an dieser Stelle nur einige exemplarisch aufgezeigt werden sollen:
Historische Phonetik
- zur Unterstützung und Erklärung der verschiedenen Systeme des Quantitätenkollaps vom lateinischen Vokalsystem zum gemeinromanischen, sizilianischen, lukanischen und sardischen Vokalsystem mit auditiven Beispielen
- zur Unterstützung und Erklärung der möglichen Entwicklungen im Vokalsystem im Allgemeinen
- zur Unterstützung und Erklärung der möglichen Entwicklungen im Konsonantismus
Phonetische Vielfalt der italienischen Dialekte
- Rafforzamento sintattico bzw. Anlautgeminierung
- Geminierung (Unterschiede in Nord-, Mittel- und Süditalien)
- Erforschung der Isoglossenbündel La Spezia–Rimini, Roma–Ancona
- Orthoepie: „lingua toscana in bocca romana“ oder „lingua toscana in bocca ambrosiana“
- Besonderheiten im Vokalismus und Konsonantismus
Morphologie
- Entwicklung des bestimmten Artikels
- Tempora und Modi
- Kasussystem
Lexikologie
- Unterschiede im Lexikon zwischen Nord-, Mittel- und Süditalien
Bezüglich der hochschuldidaktischen Einsatzmöglichkeiten bietet sich VIVALDI hervorragend an, um einerseits historische phonetische Entwicklungen darzustellen und andererseits auf die Vielzahl der Variationen und Varietäten der italienischen Dialekte und Minderheitensprachen einzugehen. Daneben werden – wenn auch in geringerem Umfang – Möglichkeiten geboten, morphologische, lexikalische und syntaktische Besonderheiten in den dialektalen Räumen Italiens darzustellen. Entsprechend didaktisch aufbereitet, können grundlegende Aspekte auch im schulischen Italienischunterricht zum Einsatz kommen. Einige Anregungen möchten wir nun umreißen.
2 Einsatzmöglichkeiten im schulischen Italienischunterricht
Sprachgeschichtliche Phänomene sind für den schulischen Italienischunterricht in der Regel irrelevant. Andererseits ist belegt, dass ein Habitus forschenden Lernens auch für Sprachaneignungsprozesse förderlich ist. Die Fremdsprachendidaktik hat hierfür den Begriff der Sprachenbewusstheit (language awareness) eingeführt (vgl. Gnutzmann 1997, 2010), dem ein inferentielles Lernverständnis zugrunde liegt. Dies bedeutet, dass Lerner über das Entwickeln und Überprüfen von Hypothesen nicht nur die Regelhaftigkeit von Sprache erschließen, sondern auch eine Sensibilität für soziale, kulturelle und historische Phänomene entwickeln. Dies hat sogar lernförderliche Auswirkungen auf die Kompetenzstände in der/den Erstsprache/n zu Folge. Für das Italienische ist außerdem zu beachten, dass es häufig als dritte Fremdsprache gelernt wird, so dass bei Schülerinnen und Schülern bereits von einem vertieften Verständnis sprachlicher Phänomene ausgegangen werden kann.
2.1 Geographische Zuordnung des Standarditalienischen
Der schulische Italienischunterricht orientiert sich an der standardisierten italienischen Hochsprache, die ihrerseits auf das Florentinische – eine toskanische Varietät – zurückgeht. Wie an allen Erhebungsorten sind auch in der Toskana – in Vinci (Provinz Firenze) und in Poggibonsi (Provinz Siena) – Daten zur Phonetik, Lexik, Morphologie und Syntax aufgezeichnet worden. Die Daten sind als Audiofiles sowie teilweise mit der zugehörigen phonetischen Transkription verfügbar. In diesem Zusammenhang bietet VIVALDI gute Möglichkeiten, um zu erkennen, dass die Hochsprache zumindest teilweise der Varietät einer bestimmten Region zugeordnet werden kann. Anders gesagt: Je größer der Wiedererkennungswert der lokalen Varietät im Vergleich zur Hochsprache ist, desto naheliegender ist ein enger sprachgeschichtlicher Zusammenhang. Schon an diesem Punkt ist mit VIVALDI entdeckendes Lernen möglich.
Eine typische Aufgabenstellung könnte etwa wie folgt konzipiert sein: Einführend werden die Lerner darauf hingewiesen, dass das standardisierte Italienisch wie die anderen den Lernern bekannten Sprachen (Deutsch, Französisch, Englisch ...) sprachgeschichtlich regional zugeordnet werden kann. Die Aufgabe besteht darin, selbst herauszufinden, welche lokale Varietät die größten phonetischen Ähnlichkeiten mit der den Lernern vertrauten Hochsprache aufweist.1
Als nötige Einschränkung kann man die Suche auf besonders aussagekräftige Beispiele aus dem phonetischen Teil eingrenzen, von denen die meisten den Lernern aus dem Grundwortschatz bereits bekannt sein dürften, z.B.:
- l’acqua (Casa del Diavolo/Umbrien, St. Nicolas/Aostatal, Aviano/Friaul, Kravar/Friaul, Roccella Jonica/Kalabrien, La Spezia/Ligurien, Ala di Stura/Piemont, Fonni/Sardinien, Vita/Sizilien, Issime/Aostatal, Kastelruth/Trentino-Südtirol, Costalta/Venetien)
- il cane
- diciotto
- giovedì
- il vino
Über den Menüpunkt „Einzelauswahl von Orten und Stimuli“ besteht die Möglichkeit, einen oder mehrere Orte auszuwählen (hierfür Umschalttaste gedrückt halten) und sich einen oder mehrere Stimuli anzeigen zu lassen. So erhält man beispielsweise eine Liste aller Aussprachemöglichkeiten des Wortes „il cane“, die in VIVALDI verzeichnet sind, was die Suche erheblich strafft und den direkten Vergleich ohne zeitliche Unterbrechung durch eine neue Suchanfrage ermöglicht (vgl. Abb. 1). Durch Klicken auf den Ortsnamen erscheint eine Karte der Region, so dass die geographische Verortung des Hörbeispiels zu jedem Zeitpunkt erfolgen kann.
2.2 Varietäten im Kontext der Mehrsprachigkeitsdidaktik
In der Fremdsprachendidaktik, besonders im Bereich der romanischen Sprachen, hat sich in den letzten 15 Jahren das Konzept der Mehrsprachigkeitsdidaktik als innovativ erwiesen. Hier wird davon ausgegangen, dass das Erlernen einer romanischen Sprache den Zugang zu weiteren Sprachen, insbesondere derselben Sprachfamilie, erleichtert. Zwei Hauptstränge lassen sich hier unterscheiden: Der erste betont die Bedeutung sprachlicher Vielfalt bereits in den Herkunftssprachen und ist daher primär kulturalistisch geprägt. Ziel ist hier das bessere Verständnis und die größere Akzeptanz migrationsbedingter Heterogenität in deutschen Klassenzimmern. Der zweite Strang ist im engeren Sinne fremdsprachendidaktisch. Er basiert auf der empirisch belegten Lernförderlichkeit eines sprachenvernetzenden Lernens. Als Beispiel sei hier der Bereich der Lexik genannt. Neben dem rezeptiven und dem produktiven Wortschatz ist auch der potenzielle Wortschatz von Belang, der sich aus den intra- und interlingualen Erschließungsmöglichkeiten ergibt. Eine explizite Auseinandersetzung etwa mit Regeln der Lautverschiebung kann diesen potenziellen Wortschatz erheblich erweitern.
Abb. 1: VIVALDI: Einzelauswahl der Stimuli

VIVALDI stellt für diese beiden Richtungen der Mehrsprachigkeitsdidaktik ein breit gefächertes Angebot an mehrfach kodierten Daten zur Verfügung: über die standardsprachliche Graphie sind die Tonaufnahmen abrufbar. Für diese steht in den meisten Fällen bereits eine phonetische Transkription zur Verfügung. Alle Daten können über vielfache Verknüpfungen jederzeit auf einer Italienkarte situiert werden. Durch eine Einbettung in Google Maps („VIVALDI Maps“) ist der Zugriff auf die Sprachdaten auch in umgekehrter Reihenfolge möglich, also über die geographische Visualisierung.
Bei der Arbeit mit VIVALDI kommt nicht nur der fremdsprachendidaktische Gedanke der „gezielte[n] Vernetzung von vor- und nachgelernten Sprachen“ (Leitzke-Ungerer 2008: 105) zum Tragen, also etwa die Nutzbarmachung von sprachlichem Wissen und Strategien aus der Muttersprache bzw. L1 und früher begonnenen (Schul-)Fremdsprachen. Es geht vielmehr auch um ein erweitertes kulturalistisches Konzept der Mehrsprachigkeitsdidaktik, das neben dem Fremdsprachenerwerb „die Entwicklung eines Bewusstseins für sprachlich-kulturelle Phänomene (Language Awareness)“ (ebd.) anstrebt. Hierzu gehört zum einen die intralinguale Mehrsprachigkeit, unter der in der Fachdidaktik das Kennenlernen der Varietäten verstanden wird. Zum anderen ist damit die interlinguale Mehrsprachigkeit gemeint, bei der die „Mehrsprachigkeit der Zielländer, z.B. unter Berücksichtigung der Regionalsprachen“ (ebd.), betrachtet werden soll.
Für beides ist Italien ein gutes Beispiel, da hier die Koexistenz einer Standardsprache mit diversen Varietäten (z.B. diatopischer Art, die VIVALDI dokumentiert) sowie mit mehreren romanischen und nichtromanischen Minderheitensprachen nachvollziehbar ist. Zu den romanischen Minderheitensprachen gehören Katalanisch, Sardisch, Frankoprovenzalisch, Okzitanisch, Ladinisch und Friaulisch; zu den nichtromanischen Deutsch, Griechisch, Albanisch, Kroatisch und Slowenisch.
Viele Lehrbücher thematisieren die regionale Vielfalt Italiens bereits im Anfangsunterricht. Häufig wird auf Namen, Hauptstädte und typische Gerichte der Regionen eingegangen (vgl. Italiano: Pronti, Via! (Gruppo Lingua 2011: 22) oder Azzurro (Fratter/Troncarelli 2007: 29)). Hier kann VIVALDI eine lehrwerksergänzende Funktion zukommen, etwa indem die Lerner auch für sprachliche Besonderheiten sensibilisiert werden. Über die Startseite können einzelne Regionen direkt angeklickt werden. In der linken Navigationsleiste kann anschließend ein Wort oder ein (Teil-)Satz ausgewählt und angehört werden.
Abb. 2: VIVALDI: Region Friaul

Im Lehrbuch Con piacere A2 (Zorzan et al. 2011) findet sich am Ende jedes Kapitels ein Beitrag zum sogenannten „Giro d'Italia“, in dem jeweils die Besonderheiten einer Region unter die Lupe genommen werden. Hierbei geht es häufig wie in den oben genannten Beispielen um Sehenswürdigkeiten, Gastronomie, landschaftliche Besonderheiten etc. In Lektion 1 ist jedoch das Thema Sprache Gegenstand des Giro d’Italia: Hier wird die Region Friuli-Venezia Giulia in einem bebilderten Informationstext vorgestellt, in dem es zunächst um die Koexistenz des Friaulischen mit dem Italienischen geht. Auch Deutsch und Slowenisch werden als Minderheitensprachen der Region erwähnt. Einzelne Wörter wie die Grußformel Benvignus oder Eigennamen wie Udin und Tresesin werden exemplarisch für das Friaulische angeführt. Der Herkunftsort der Erzählerin des Lektionstextes, Tresesin/Tricesimo, gehört zu den in VIVALDI verzeichneten Orten – ein schöner Anknüpfungspunkt für eine Beschäftigung mit einer romanischen Minderheitensprache (vgl. Abb. 2).
In VIVALDI Maps können die Lerner den Ort leicht finden. Oder der Nutzer wählt über die Funktion „Einzelauswahl von Orten und Stimuli“ den Ort aus und kann sich so alle erfassten Aufzeichnungen auflisten lassen. Eine mögliche Aufgabenstellung wäre hier, eine Vergleichsliste Italienisch/Friaulisch zu erstellen und eine persönliche Auswahl zu treffen.
Mögliche Leitfragen sind:
- Welche Einträge weichen besonders stark vom Standarditalienischen ab?
- Welche Einträge sind besonders ähnlich?
- Welche Einträge findest Du besonders schön (überraschend, kurios, witzig ...)?
Vertiefend kann über das Internetwörterbuch Dizionari multilengâl (http://www.friul.net/multilingue) die Graphie der gewählten Einträge nachgeschlagen werden – schließlich ist es für viele Lerner sicher eine überraschende Erkenntnis, dass es sich beim Friaulischen tatsächlich um eine standardisierte Sprache mit eigenem Wörterbuch und eigener Grammatik handelt.
2.3 Gebrauch der Vergangenheitszeiten
In den meisten romanischen Sprachen ist die Tendenz zu beobachten, die Dreiteilung der Vergangenheitszeiten (imperfektiv vs. perfektiv mit Gegenwartsbezug vs. perfektiv ohne Gegenwartsbezug) zugunsten einer Zweiteilung (imperfektiv vs. perfektiv) zu reduzieren. Ähnlich wie im Französischen (passé composé vs. passé simple → passé composé) hat sich im Standarditalienischen zur Beschreibung abgeschlossener Vorgänge in der Vergangenheit die analytische Zeitform passato prossimo durchgesetzt, während das synthetische passato remoto (besonders in Norditalien) häufig nur noch in literarischen Texten zu finden ist. In den mittel- und süditalienischen Dialekten stellt sich die Situation dagegen anders dar: Hier wird für abgeschlossene Vorgänge in der Vergangenheit das passato remoto auch im mündlichen Sprachgebrauch aktiv gebraucht und bevorzugt genutzt (vgl. Krenn 1996: 370; Kirsten/Mack 2009: 36). Ein paralleles Phänomen lässt sich als Tendenz in den lateinamerikanischen Varietäten des Spanischen beobachten (pretérito perfecto compuesto vs. pretérito perfecto simple → pretérito perfecto simple).
Für den fortgeschrittenen Italienischunterricht ist eine Aufgabenstellung denkbar, die sich auf die Tendenz in den nord- bzw. mittel- und süditalienischen Varietäten bezieht, zumindest in der Mündlichkeit eine der beiden perfektiven Vergangenheitsformen zu bevorzugen und herauszufinden, wo hier eine Grenze (Isoglosse) zu ziehen wäre. Hierzu heißt es etwa in der Lerngrammatik Grammatica italiana per tutti von Kirsten/Mack (2009: 36, Hervorh. v. uns):
Für Vorgänge, die in sich abgeschlossen sind und einem vergangenen Zeitabschnitt angehören, kann anstelle des Passato remoto auch das Passato prossimo stehen, vor allem in der gesprochenen Sprache. In Norditalien wird in diesem Fall fast ausschließlich das Passato prossimo gebraucht, während in Süditalien eher das Passato remoto bevorzugt wird.
Aus diesem Zitat werden nun die Worte Norditalien/Süditalien gelöscht, ggf. zusätzlich die Namen der Verbzeiten. Ziel der Aufgabe ist es, die Regel selbständig korrekt zu ergänzen. Dies sollen die Schüler versuchen, indem sie beispielsweise im Gleichnis vom verlorenen Sohn zuerst die dort vorhandenen passato remoto-Formen finden und isolieren. Im nächsten Schritt könnten dann mithilfe der „Einzelauswahl von Orten und Stimuli“ für jede Region mindestens ein Ort und ein paar Beispielsätze ausgewählt werden. Durch einfaches Anhören der Antwortsätze sollte der Schüler einen ersten Überblick über die mündliche Verwendung des passato remoto im italienischen Sprachraum bekommen und in der Lage sein, ein aussagekräftiges Ergebnis zu formulieren. Als erwünschten Nebeneffekt bekommt der Italienischlernende auch gleich einen Eindruck von den jeweiligen regionalen Dialekten.
Alternativ zur „Einzelauswahl“ könnte natürlich auch in gleicher Weise VIVALDI Maps verwendet werden. Mithilfe der Einzelkarten könnten die Schüler auch Region für Region (z.B. von Norden nach Süden) untersuchen und auswerten, indem sie sich im syntaktischen Teil von VIVALDI folgenden Satz anhören, der den Probanden mit der Aufforderung vorgelegt wurde, ihn sinngemäß im lokalen Dialekt wiederzugeben: Un ramo marcio mi è caduto sul viso; mi ha fatto sanguinare il naso. Von besonderem Interesse ist hierbei, ob und wie die beiden Verbformen è caduto und ha fatto transformiert werden.
An dieser Stelle ist anzumerken, dass die erhobenen Daten kein einheitliches Bild ergeben, was vermutlich auf die leichte Steuerung aufgrund des Satzimpulses im passato prossimo sowie den impliziten Gegenwartsbezug des Satzes zurückzuführen ist. Dennoch finden sich noch genügend Beispiele, anhand derer sich die Regel selbst herausfinden lässt. Unser Vorschlag für eine Vorauswahl, die auch der Reduzierung der Datenmenge und dem Ausschluss der hier nicht relevanten Minderheitensprachen dient, umfasst folgende Orte:
- Trentino: Delba, Canal San Bovo, Trento
- Venetien: Verona, Belluno, Anpez/Cortina d'Ampezzo
- Sizilien: Vita, Palermo, Villalba, Patti, Bronte, Catania, Vittoria, Malfa
Auch hier ist der Zugriff auf die Daten über die „VIVALDI Maps“-Darstellung sehr komfortabel. Das Item lässt sich oben auf der Seite in einem Drop-down-Menü vorauswählen. Anschließend lassen sich die Hörbeispiele inklusive phonetischer Transkription abrufen (vgl. Abb. 3).
Als weitere Möglichkeit zur Erarbeitung des regional unterschiedlichen Gebrauchs der Vergangenheitszeiten ist auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn, bei dem die Probanden einen längeren Text in der Vergangenheit nacherzählen mussten, geeignet. Auch hier können die Beispielsätze entweder direkt in VIVALDI oder über VIVALDI Maps angesteuert werden.
Abb. 3: VIVALDI Maps

Die oben vorgeschlagenen Ideen lassen sich je nach Vorkenntnissen der Lerner selbstverständlich auch in der Hochschule einsetzen. Hierzu möchten wir im Folgenden noch einige weiterführende Anregungen geben.
3 Hochschuldidaktik und Lehrerbildung
Durch die wissenschaftliche Ausrichtung von VIVALDI gibt es für den Einsatz in der Hochschule natürlich eine Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten. Ein möglicher Schwerpunkt liegt dabei sicherlich in der Phonetik, da VIVALDI jederzeit als Begleitmaterial zur akustischen Präsentation der behandelten Phänomene herangezogen werden kann. Hierbei eignen sich insbesondere die dem Standarditalienischen zugrunde liegenden mittelitalienischen Varietäten wie das Florentinische.
Wir möchten an dieser Stelle nur ein Beispiel für den Phonetikunterricht herausgreifen. Bekanntermaßen lässt sich an der geographischen Linie La Spezia–Rimini ein sogenanntes Isoglossenbündel feststellen. Dieses markiert den Übergang zwischen Ausprägungen mehrerer sprachlicher Phänomene, so dass es zu einer Varietätengrenze kommt. Diese Linie ist insofern von besonderem Interesse, als sie nicht nur für die romanischen Varietäten des italienischen Staatsgebiets relevant ist, sondern gleichzeitig eine Einteilung der romanischen Sprachen in West- und Ostromania erlaubt. Die Varietäten nördlich dieser Linie weisen viele wichtige gemeinsame Merkmale mit den westromanischen Sprachformen auf (z.B. Spanisch, Portugiesisch), während diejenigen südlich der Linie zur Ostromania gezählt werden. Ein phonetisches Phänomen, das hier eine Rolle spielt, ist die Sonorisierung der intervokalischen Plosive. Konkret heißt dies, dass /p/, /t/, /k/ zwischen zwei Vokalen nördlich der Linie stimmhaft als [b], [d], [g] oder sogar als frikativer Laut [β], [δ], [γ] realisiert werden. Im Nordwesten kommt es häufig sogar zum vollständigen Schwund des Lautes.
Im Unterricht kann diese Entwicklung anhand ausgewählter Beispiele aus VIVALDI selbständig entdeckt und nachvollzogen werden. Aussagekräftige Items aus dem VIVALDI-Korpus (phonetischer Teil) sind:
- la catena (Beispiel: San Stino di Livenza/Venetien vs. Aidone 2/Sizilien)
- il fuoco (Beispiel: Auronzo di Cadore/Venetien vs. Giarratana/Sizilien)
- il capello (Beispiel: Verona/Venetien vs. Casa del Diavolo/Umbrien)
Die Vertrautheit mit diesen Phänomenen ist als Rüstzeug für die romanische Interkomprehension nicht zu unterschätzen. VIVALDI bietet hier einen großen lernpsychologischen Vorteil, denn der „sprechende“ Sprachatlas erlaubt es, die Phänomene nicht nur auf einer abstrakt-kognitiven und schriftlichen Ebene zu erkunden, sondern sie auch auditiv und damit unter Einbeziehung eines weiteren Sinns kennenzulernen.
Von der diatopischen und synchronen Ebene ist es nun nur noch ein kleiner Schritt zur diachronen Sprachbetrachtung. Auch in Seminaren zur Sprachgeschichte spielen Phänomene wie die genannten, aber auch Lautentwicklungen wie Diphthongierung und Umlautung (Metaphonie), der Gebrauch von tenere vs. avere, die Entwicklung der Artikel usw. eine große Rolle. Da manche Varietäten einen älteren Sprachstand konservieren als andere oder die standardisierte Hochsprache, ist die diachrone Achse auf der diatopischen Ebene teilweise nachzuvollziehen.
4 Fazit
Der Habitus forschenden Lernens, dessen Bedeutung für schulisches Lernen wir oben hervorgehoben haben, ist selbstverständlich für Lehramtsstudierende von noch größerer Bedeutung. Die digitale Verfügbarkeit und einfache Nutzung einer Sprachdatenbank wie VIVALDI bietet hier ein weites Betätigungsfeld, sie lädt buchstäblich dazu ein, forschendes Lernen zu praktizieren. Wenn Studierende in diesem Rahmen eine Sensibilität für den Varietätenreichtum im italienischen Sprachraum entwickeln, so wird sie dies mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen ein allzu rigides Normverständnis wappnen. Dies wäre im Hinblick auf jenen toleranten Umgang mit Fehlern im Fremdsprachenunterricht durchaus wünschenswert, den auch der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen nahelegt.
Schließlich und letztlich ist noch zu nennen, dass besonders interessierte Studierende die Möglichkeit haben, im Rahmen einer Abschlussarbeit oder Dissertation selbst an der Datenerhebung mitzuwirken und so einen handelnden Einblick in die Methodik der Feldforschung zu gewinnen. Kurzum: Es sollte deutlich geworden sein, dass VIVALDI sehr wohl didaktische Potenziale auf der Ebene schulischen Italienischunterrichts wie auch der Italienischlehrerausbildung besitzt. Dafür gebührt unserem Jubilar Dank!
Anmerkungen
1 Der Aufnahmepunkt Florenz war zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags noch nicht in VIVALDI vorhanden, ist aber in der Zwischenzeit eingefügt worden.
Literatur
Fratter, Ivana/Troncarelli, Claudia (2007): Azzurro A1/A2. Italienisch Intensivkurs mit Audio-CD, Stuttgart.
Gnutzmann, Claus (1997): Language Awareness. Geschichte, Grundlagen, Anwendungen, in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 3, 227–236.
– (2010): Language Awareness, in: Wolfgang Hallet/Frank G. Königs (Hg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik, Seelze-Velber, 115–119.
Gruppo Lingua (2011): Italiano – Pronti, Via!, Stuttgart.
Kirsten, Gerhard/Mack, Barbara (2009): Grammatica italiana per tutti, Stuttgart.
Krenn, Herwig (1996): Italienische Grammatik, Ismaning.
Leitzke-Ungerer, Eva (2008): Mehrsprachigkeitsdidaktik und mehrsprachige Kommunikationssituationen in den neuen Lehrwerken für den Französisch- und Spanischunterricht, in: Christiane Fäcke/Walburga Hülk/Franz-Joseph Klein (Hg.): Multiethnizität, Migration und Mehrsprachigkeit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Adelheid Schumann, Stuttgart, 105–124.
VIVALDI = Vivaio Acustico delle Lingue e dei Dialetti d’Italia, http://www2.hu-berlin.de/vivaldi.
Zorzan, Lorenza et al. (2011): Con piacere A2. Lehr- und Arbeitsbuch Italienisch mit 2 Audio-CDs, Stuttgart.
Für eine kritische Durchsicht des Manuskripts bedanken sich die Autoren bei Sara Mamprin.