Von der Praxis her gab es zu diesem Zeitpunkt noch mehrere konkurrierende Orthographiesysteme, von denen das System LPT der Bewegung Ledikasyon pou Travayer dominierte, aus dem einfachen Grund, dass man dort über mehr finanzielle Mittel und einen gut ausgestatteten Verlag verfügte. Dev Virahsawmy, der in den Jahren nach 1967 die Überlegungen zu einer „modernen“, d.h. phonetisch-phonologisch basierten Schreibung, überhaupt erst in die Wege geleitet hatte, wollte dieses System nicht zu dem seinen machen, musste aber gleichzeitig akzeptieren, dass sein ursprüngliches System „überholt“ war.2 Er versuchte sich an verschiedenen neuen Ansätzen, die hier im Detail nicht weiter von Interesse sind, da sie ohne Folgen blieben. Den ersten dieser Versuche haben wir damals, 1992, noch vorgestellt.3
Inzwischen ist das Kreolische in Mauritius immer mehr öffentlichkeits- und damit auch politikfähig geworden. Es wurde Schritt für Schritt akzeptiert, ohne dass sich dies, zumindest aus der Ferne, hier genau dokumentieren ließe. Vielleicht nicht in hochoffiziellen Kontexten, doch gleich im Anschluss daran, und vielleicht auch schon vorher, sprach man unter den gleichen Akteuren, solange der Kontext weniger offiziell war, Kreolisch miteinander. Und – es mag nach der vorausgegangenen, beinahe jahrzehntelangen Diskussion fast wie ein Wunder klingen – man einigte sich auf ein gemeinsames System, Grafi-larmoni. Alle verwenden es, auch die Politik und sogar die katholische Kirche. Als 2009 das Diksioner Morisien von Arnaud Carpooran erschien, mit einem Umfang von über 1000 Seiten, dessen Druck von namhaften Unternehmen unterstützt wurde, war es das Premie diksioner kreol monoleng dan Lemond.4 Die neue Orthographie war damit endgültig etabliert, auch wenn die Unterschiede zu den vorausgehenden Systemen von LPT und von Virahsawmy nicht allzu groß waren. Man hatte sich zusammengesetzt und sich auf eine gemeinsame Lösung geeinigt,5 und diese Lösung wird propagiert!
Das neueste Ergebnis ist eine im April 2011 erschienene Publikation der Akademi Kreol Morisien mit dem Titel Lortograf Kreol Morisien, mit ministeriellem Vorwort und Widmung (zunächst in englischer Sprache, denn dies ist ja die offizielle Sprache von Mauritius, und gefolgt von der kreolischen Version) von Dr. Hon. Vasant K. Bunwaree, Minister of Education and Human Resources.6 Dort kann man lesen:
It is with immense pleasure that I present today to the entire
population of Mauritius this first document produced by the Akademi
Kreol Morisien (AKM) entitled „Lortograf Kreol Morisien“.
This document represents the collective effort of a dedicated group that
has for long been militating for the establishment of Kreol Morisien as
an official language and for the introduction of Kreol Morisien into the
classroom.
The government in which I have the pleasure and honour to serve as a
State Minister has made it a crucial part of its policy to give this
language its legitimate place in the education system. This is not so
much because it will merely help our pupils to better apprehend concepts
and knowledge, but principally because a mother tongue needs to be
ascribed its due credentials.
[…]
In der kreolischen Übersetzung der Mesaz Minis Ledikasion ek Resours Imin lautet dies:
Se avek enn gran plezir ki mo pe prezant premie dokiman ki Akademi Kreol
Morisien finn prodir pou popilasion Moris anantie. So tit se
„Lortograf Kreol Morisien“.
Sa dokiman-la reprezant zefor kolektif enn group dimounn devwe, ki pa
finn aret milite pou ki Kreol Morisien vinn enn lang ofisiel e ki li
rant dan lekol.
Mo ena plezir ek loner fer parti enn gouvernman ki konsider introdiksion
Kreol Morisien kouma enn priorite. Sa montre ki nou krwar ki sa
langaz-la ena so plas lezitim dan lekol. Pa zis parski li pou donn enn
koudme nou bann zanfan konpran bann konsep, me prinsipalman parski nou
krwar ki li nou devwar donn tou rekonesans enn langaz maternel.
[…]
Und in Le Matinal war am 31. März 2011 unter der Überschrift Le kreol morisien sur les bancs de l’école dès janvier 2012 zu lesen, wie in der Presse in Mauritius bisher fast üblich in französischer Sprache, dass „l’introduction du kreol morisien comme matière optionnelle à l’école primaire se fera en janvier 2012. C’est ce qu’a déclaré le ministre de l’Education Vasant Bunwaree.“
Welch eine Entwicklung! Bei meinen Feldforschungen 1975 zu Connaissance et emploi des langues à l’Ile Maurice7 war das Kreolische im Grunde ein Nicht-Thema. Im März 2009, als ich an der Mauritius University einen Vortrag über diese Arbeit (und Zeit) halten konnte – der gleichzeitig auch eine Geschichtsstunde für die heutigen Studierenden war – konnte man danach im Bericht des Le Matinal zur Situation des Kreolischen damals lesen:
Le créole était considéré comme subversif. Le MMM8 avait choisi cette langue pour mener son combat auprès de la masse. Je me souviens qu’on a discuté une seule fois en créole sur le campus de l’université. La salle était bondée, mais personne ne savait qu’on organisait cette rencontre.
Doch zurück in die heutige Zeit. Hieß es nicht am Schluss des Kongressbeitrags: les préjugés contre le créole subsistent? Das Kreolische scheint allem Anschein nach nahe am Ziel zu sein, aber das heißt noch lange nicht, dass diese Position von allen vertreten und verteidigt wird. Bestätigt wird dies von einem Artikel, den einer meiner Studenten an der FU in Berlin im Verlauf meines dortigen Seminars im Sommersemester 2011 in KotZot. Mauritius Portal9, datiert auf den 23. Mai 2011, entdeckt hatte. Er soll hier in Auszügen und mit einigen wenigen kritisch-diskursanalytischen Anmerkungen folgen – eigentlich könnte man ein ganzes Buch oder zumindest eine umfangreiche Magister- oder Masterarbeit darüber schreiben –, denn er zeigt, dass die Diskussion noch lange nicht abgeschlossen ist und dass alte (Vor-)Urteile weiterhin sehr lebendig sind. Den Betreffenden erscheint das Kreolische weiterhin als eine Gefahr, es bedroht den vertrauten Status quo der Sprachen in Mauritius, und es lässt die Indo-Mauriciens um die (zumindest virtuell noch wichtige) Rolle ihrer eigenen indischen Sprachen in Mauritius fürchten. Ich habe einige mots-clés unterstrichen:
What a shame for a country which prides itself for its high level of
literacy and education when, for purely political reasons to gain the
votes of a few misguided (even racist) voters, the Mauritian government
degrades the Mauritian education system by deciding to introduce to very
young and vulnerable children in Standard 1 as an option from January
2012 a French-based spoken slave creole language (called ‘Kreol
Morisien’) written in the most distorted phonetics to be considered
pari passu with proper spoken and written languages such as Hindi, Urdu
and Bhojpuri. Such a move can only debase the whole education system up
to tertiary level as academic standard, will have to be lowered to
accommodate those who opted for the slave language, which may well be
unconstitutional, at primary level failing which it would amount to
discrimination.
[…]
As a language, creole refers to the language spoken by the Black African
slaves through interaction with and as imposed upon them by their White
Slaves Masters. And the slave who spoke creole became known as a
«Creole», hence the term «SLAVE CREOLE». […]
Wortwahl und Ausdrucksweise sprechen eigentlich für sich, sodass nicht viel zu ergänzen und zu kommentieren ist; nur auf die stigmatisierende Charakterisierung des Kreolischen aus der Feder bzw. der Tastatur eines Indo-Mauricien sei hingewiesen, denn für ihn, den Nachfahren von indentured labourers steht die „Sklavensprache“ Kreolisch weit unter den indischen Sprachen in Mauritius.
Der Autor des Textes will nicht akzeptieren, dass Kreolisch, das schon im täglichen Leben die indischen Sprachen mehr und mehr verdrängt hat, jetzt auch noch offiziell anerkannt werden soll. Da muss man sogar die Geschichte des Kreolischen korrigieren und es nach dem Ende der Sklaverei erst einmal für tot erklären. Die folgenden Zahlen zur Bevölkerung stimmen, auch wenn der Anteil der Sklavennachfahren vielleicht einige Prozente größer ist als angegeben:
While in slave colonies which have remained European colonies the creole language continued to be spoken, in Mauritius the language perished as the British won the island from the French in 1810 and slavery abolished in 1835 and Indian labourers brought in from British India. Indo-Mauritians form around 70 % of the Mauritian population with Afro-Mauritians of slave ancestry around 25 %. […]
Der folgende Text mag wieder unkommentiert bleiben, er spricht für sich. Eine Korrektur ist trotzdem nötig: Dev Virahsamy ist wie der Verfasser dieses Textes ein Indo-Mauritian, ein fils de coolie, wie die Inder in Mauritius von den anderen Gruppen bei (un-)passender Gelegenheit genannt werden, kein French linguist, und er hat in Edinburgh studiert, um dann Englisch zu unterrichten, unterbrochen und begleitet von seinen politischen und vor allem seinen schriftstellerischen Aktivitäten. Ohne ihn – siehe oben – wäre das Kreolische nicht das, was es heute ist:
1960’s militancy
During the late 1960’s the newly-formed Mouvement Militant Mauricien
led by Paul Raymond Bérenger, with other founding members such as Dev
Virahsawmy (a French linguist), Jooneed Jeerooburkhan (a historian),
tried to revive slave creole as a political tool. They influenced
vulnerable people who had a history of slavery behind them by making
them believe that creole is their ancestral language which should be
introduced in the education system, in Parliament, in offices and
everywhere else. They decried English and French languages as languages
of European imperialists and Indian languages as backward languages. In
reality, slave creole has always been a European language indigenous to
the slave colony and not an African language. It was never an ancestral
language. […]
Degrading and racist
Creole was always considered as a backward language and as a swear word
associated with other equally degrading terms. […] On the other hand,
the Mauritian Creole invented by Dev Virahsawmy et al. systematically
purges the Mauritian Patois of all its Indian ingrowths and outgrowths
and called it ‘Kreol Morisien’, Kreol as in Haitian Creol. In fact,
it is not Mauritian Creole at all. It equates the language only with
Catholics, with the Catholic Church leading the battle of créolité, a
French racist invention. […]
Dr Vasant Bunwaree did no scientific studies
Dr Vasant Bunwaree, the Minister for Education, has done no scientific
studies of his own to establish the facts as to the origin of slave
creole in Mauritius, which was not an ancestral language as alleged, how
it was spoken and written, if at all, how it evolved and how it
allegedly took over a whole country 70 % of which is of Indian origin.
If teaching in the mother tongue has become the new excuse, then British
schools would have taught children in Cockney and French schools in
Argot. In any case, the mother tongue is Mauritian Patois (MP) and not
Mauritian Creole (MC) as in Haitian Creole (HC).
Stellt sich nur die Frage, welches der Unterschied zwischen «Mauritian Creole» und «Mauritian Patois» ist. Ansonsten wieder „kein Kommentar“ – oder doch die Frage: wer hier racist ist? Es bereitet dem Verfasser des Textes schon Probleme, wenn der zuständige Minister, der für das Kreolische eintritt, selbst Indo-Mauritian ist. Bleibt nur eine Erklärung für sein Verhalten:
It is clear that Dr Bunwaree is merely implementing what PM Ramgoolam
has long promised he would do, not because he based his decision on any
internationally recognised linguistic, phonetic, phonological,
sociological and anthropological research, but merely because he made a
political decision to win votes. […]
M Rafic Soormally, London, 23 May 2011
Die Conclusion können wir unbeachtet lassen, sie bringt keine neuen Argumente und bleibt im gleichen Stil. Und unsere kritische Textanalyse ist schließlich auf wenige Anmerkungen beschränkt geblieben. Einerseits spricht der Text für sich und muss nicht kommentiert werden. Andererseits würde eine angemessene Kommentierung gerade auch für einen Leserkreis, der Mauritius unter diesem Aspekt nur wenig oder gar nicht kennt, einen Umfang erfordern, der über das hier und heute Mögliche weit hinausginge.
Bleibt die Schlussfrage, wie groß der Einfluss solcher Positionen auf die weitere Entwicklung ist. Mit seiner Position steht Rafic Soormally sicher nicht alleine, Vorurteile gegen das Kreolische sind mit der Arbeit der Akademi kreol morisien nicht aufgehoben und werden noch lange weiter existieren, überraschend und erschreckend ist nur die Diskussionsweise, die auch vor falschen Aussagen nicht zurückschreckt. Trotzdem scheint die Position des Kreolischen in Mauritius auf die Zukunft gerichtet und gesicherter denn je zu sein, vielleicht auch dank einer langsamen Entwicklung, die letztendlich mit einer Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung einhergeht.
Bleibt jetzt noch die Frage an den damaligen Mitautor, inzwischen Hexagenarius, wie es in den vergangenen zwanzig Jahren dem Dolomitenladinischen ergangen ist?
Kiel, im Dezember 2011
Anmerkungen
1 Stein, Peter/Kattenbusch, Dieter (1992): Pourquoi et comment élaborer une orthographe pour des langues romanes non encore codifiées? Quelques réflexions comparatives à propos de la codification du ladin des Dolomites et du créole mauricien, in: Actas do XIX Congreso Internacional de Lingüística e Filoloxía Románicas, Universidade de Santiago de Compostela, 1989, vol. III, Lingüística Pragmática e Sociolingüística, A Coruña, 183–197.
2 Dieses 1967 entwickelte System basierte auf dem von MacConnell/Laubach 1945 entwickelten System für das créole haïtien. Sein wichtigster Zug war die Markierung der Nasalvokale mit dem accent circonflexe über dem Vokal (<â>, <ê>, <ô>).
3 Eine Übersicht zu den Systemen befindet sich im Anhang.
4 Arnaud Carpooran (2009): Diksioner Morisien. Premie diksioner kreol monoleng dan Lemond & Ekivalan lexikal an franse ek angle, Sainte Croix (Ile Maurice).
5 Nota bene: Auch in Deutschland wurden inzwischen zwei Bücher in dieser Orthographie vom Verlag Tintenfaß (Polank im Kreolischen) herausgegeben: Charles Baissac: Märchen aus Mauritius/Ti-Zistwar Pei Moris, Zweisprachige Ausgabe, Deutsch und Kreolisch, hg. u. übers. von Walter Sauer, Neckarsteinach 2006 und Antoine de Saint-Exupéry/Dev Virahsawmy: Zistwar Ti-Prens – Morisien/Mauritian Creole, Neckarsteinach 2006.
6 Akademi Kreol Morisien, Lortograf Kreol Morisien, Rapor redize par Dr Arnaud Carpooran, http://www.gov.mu/portal/goc/educationsite/file/Lortograf%20Kreol%20Morisien.pdf.
7 Peter Stein (1982): Connaissance et emploi des langues à l'Ile Maurice, Hamburg.
8 Mouvement Militant Mauricien, eine linke, sozialistische Partei, die sich als einzige politische Kraft für das Kreolische einsetzte. Virahsawmy hatte sich vom MMM getrennt und eine eigene Partei MMMSP (Mouvement Militant Mauricien Socialiste Progressiste) gegründet.
9 Siehe http://www.kotzot.com. Der Artikel ist über die Suche mit ‚Kreol Morisien‘ leicht zu erschließen.
Anhang: «Bann pratik grafik ki ti existe avan Grafi-larmoni (andeor pratik etimolozik)»
1. P. Baker, 1972: «Grafi „ah“»
Konsonn „h“ servi pou sinboliz nazalizasion bann vwayel:
ah: „an“; eh: „ein“; oh: „on“; yh: „gn“.
2. P. Baker & V. Hookoomsing, 1987: Lortograf-Linite
Prezans enn pwin lor konsonn „n“ ek „m“ pou mark nazalizasion
bann vwayel.
Exanp: baṅ , laṁpul, boṅ, noṁ;
absans pwin lor „n“ ouswa „m“ indike ki konsonn-la bizin
prononse: ban, lam; boṅbon, bom.
3. Ledikasyon Pu Travayer: 1977: «Grafi n/nn»
Ban/bann; bon/bonn; bin(ben)/binn; pu; mwa; lerwa; gayn; byin.
4. D.Virasawmy,
- 1967: Grafi aksâ sirkôflex: Morisiê; avâ; lôtâ
- 1985: Graphie d’accueil: Sherif; kees; diil; diliit; horrni
- 1988: La sacrosainte graphie: Santere; lalimiere; pëi; zëan; loulou; axepte; quen; keess
- 1990–1998: Graphie consensuelle: Faktèr; kontribié; pratchik; kiltchirel; djinamik; metchiss
5. Legliz katolik an kolaborasion ek D. Virasawmy, 1998: Grafi legliz
Pou; moi; leroi; gagne; bien
Nach der tabellarischen Zusammenstellung in Akademi Kreol Morisien (2011): Lortograf Kreol Morisien, 24.